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* 22.11.1936

Romanistischer Literaturwissenschaftler

Für eine Öffnung des Hermeneutischen Zirkels ist der Titel eines Vortrags, den Karlheinz Stierle im Jahr 1985 hielt. Darin nimmt er Bezug auf Gadamers Wahrheit und Methode (1960). Er kritisiert dessen Methodenfeindlichkeit, also die Abneigung, sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln zu analysieren und fordert eine neue, methodenfreundliche Hermeneutik: "Diese müßte an der von Heidegger postulierten und von Gadamer auf die Welt der überlieferten Texte zurückbezogenen Legitimität des hermeneutischen Zirkels festhalten und dennoch das von diesen Ausgegrenzte, die Methode, wieder in die hermeneutische Bewegung integrieren." (S. 49) Dabei sei in der Form des sogenannten struktural-hermeneutischen Zirkels zu verfahren, zu dem der hermeneutische Zirkel Gadamers - das Sinngeschehens zwischen Überlieferung und Aneigung - erweitert werden müsse.

Hermeneutik hat sich für Stierle nicht - wie für Gadamer - allein auf der Ebene des "Geschehens" zu bewegen. Gadamer sieht in ihr die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Stierle sieht ihre zentrale Aufgabe eher auf der Metaebene. Seiner Ansicht nach hat Hermeneutik dieses Überlieferungsgeschehen in den Mittelpunkt  zu stellen und seine Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen: "So liegt es nahe, als das eigentliche Thema der hermeneutischen Operation das Verhältnis von erster, gleichsam noch passiv erfahrener und mehr oder weniger bewußtloser Lektüre zur zweiten, bewußt aneignenden und durcharbeitenden Lektüre anzusehen. [...] Es geht also darum, das schon Verstandene zu verstehen und damit zugleich das Verstehen des schon Verstandenen zu verstehen." (S. 353)

Dazu aber bedarf es einer wissenschaftlichen Methode. Stierle schlägt vor, bei der hermeneutischen Betrachtungsweise auf den Strukturalismus sowie die daraus abgeleitete Erzählanalyse und deren Einsichten in den Bau der Erzählformen zurückzugreifen. Hermeneutik könne sich aber nicht damit zufrieden geben, die Struktur des Textes offenzulegen, sondern müsse "in einem methodischen Gang der Betrachtung bis zur Komplexität des konkreten Textes und zur Vielfalt seiner Kontexte weiterführen", denn nur diese "Umkehrung" sei geeignet, "die ästhetische Erfahrung selbst immer bewußter zu machen" (S. 351).

Schließlich plädiert Stierle - in seinem Buch Text als Handlung - für eine sogenannte systematische Literaturwissenschaft, die der historischen Literaturwissenschaft systematische Bezugsrahmen erarbeiten und so von orientierender Kraft für die Erfassung konkreter literarischer Manifestationen sein soll: "Weder die reine Intention noch die reine Rezeption können den Ausgangspunkt einer systematischen Literaturwissenschaft bilden. Sie bedürfen beide der Objektivation in einem Textschema, das der Produktion wie der Rezeption als verbindlich vorausliegt. Der Sinn des Handelns ist nie durch sich selbst evident, sondern durch seine Bezogenheit auf ein Handlungsschema, das seinen institutionellen Ort hat im Rahmen eines gegebenen kulturellen Handlungssystems." (S. 9)

© DS

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