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Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? (Qu´est-ce que la littérature?) (1947)

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Sartres Essay Was ist Literatur? versucht die Forderung nach dem - moralischen wie politischen - Engagement des Schriftstellers für seine Epoche durch eine Wesensbeschreibung der Literatur zu begründen. Eine solche Forderung bezieht sich jedoch ausschließlich auf die Prosa, die insofern eine Sonderstellung innerhalb der Kunst einnimmt: Malerei, Musik und Skulptur bringen 'Dinge' hervor, ihre Werke sind darum vieldeutig, unerschöpflich und erlauben widersprüchliche Auslegungen. Klare und unmissverständliche Stellungnahmen - und damit auch ein Engagement - sind aus diesem Grund ausgeschlossen. Dies gilt auch für die Poesie, da sie Wörter als 'Dinge' konstituiert und sie nicht, wie es die Prosa tut, als Zeichen verwendet, um den Blick des Lesers auf Sachverhalte in der Welt zu lenken. Wer etwas benennt, verändert es, indem er es ans Licht der Öffentlichkeit zieht, wodurch es dann nicht länger mit Stillschweigen übergangen und ignoriert werden kann. Wenn der Prosaist also eine Situation enthüllt, so kann man ihn fragen, warum er über Briefmarken und nicht über Antisemitismus schreibt, warum er also lieber diesen Aspekt der Welt al jenen verändern will.

Von entscheidendem Einfluß auf die Rezeptionsästhetik (Iser, Jauß u.a.) sind Sartres Ausführungen zur Relevanz der Lektüre für die literarische Produktion. Für den Schriftsteller ist sein eigenes Werk niemals objektiv, d.h. es ist nicht unabhängig von ihm, da er immer nur das findet, was er selbst hineingelegt hat. Insofern er die Sätze kennt, bevor er sie aufschreibt, stößt er immer nur auf seine eigene Subjektivität und kann die Wirkung seiner Formulierungen nicht selbst empfinden. Nach Sartre kann der Autor sein Werk also nicht erfahren, weil er es erschafft. Nur der Leser ist imstande, den literarischen Text als Objekt aufzufassen: Für ihn zeigt sich in der Lektüre etwas Neues, er wird überrascht, er fiebert den Ereignissen der Erzählung entgegen usw., gerade weil sich das Werk von seiner Subjektivität unterscheidet. Der Bezug zum Anderen erweist sich daher als notwendig für die Kunst: Das Werk ist ein Appell an die Freiheit des Lesers, die literarische Schöpfung zum Abschluß zu bringen. Der Rezipient wird in der Lektüre zwar von den Vorgaben des Autors gelenkt, dennoch liefert sich das Werk dabei einem Sinn aus, den der Leser erfindet: "Lektüre ist gesteuertes Schaffen" (S. 40). Hier berühren sich Ästhetik und Moral: Insofern das Werk an die Freiheit des Lesers appelliert, verlangt jeder Schriftsteller auch ohne seinen Willen im Namen der Demokratie die wechselseitige Anerkennung der Freiheiten.

Nach solchen eher philosophischen Betrachtungen wendet sich Sartre der historisch-gesellschaftlichen Dimension der Literatur zu: Indem der Schriftsteller über seine Gegenwart schreibt, beurteilt er sie im Namen der Hoffnungen und Leiden seiner Zeitgenossen. Der literarische Text definiert sich, indem er sein Publikum definiert, und gerade darum können Bücher durchaus veralten: So kann der farbige Schriftsteller Richard Wright, da er in eine gesellschaftlich definierte Situation integriert ist, nur über eine mit den Augen eines Farbigen gesehene und von den Weißen dominierte Welt sprechen. Ihrem Wesen nach ist die Prosa mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten solidarisch, insofern sie auch ohne und selbst gegen den Willen des Autors nach einem idealen Gesellschaftstyp verlangt, den Sartre näher als klassenlose sozialistische Demokratie charakterisiert. Die philosophischen Bestimmungen aus den ersten Teilen von Was ist Literatur? finden eine gesellschaftlich-historische Wendung in der Definition der Literatur "Subjektivität einer Gesellschaft in permanenter Revolution" (S. 122).

Der letzte Teil des Essays beschreibt die Situation des Schriftstellers im Jahr 1947, zur Zeit der Publikation von Was ist Literatur? Im Unterschied zu ihren unmittelbaren Vorgängern hat Sartres eigene Schriftstellergeneration den massiven Einbruch der Geschichte erlebt: Eigene Erfahrungen als Mitglied der Résistance kommen ins Spiel, wenn Sartre Krieg und Folter als Themen beschreibt, die sich den zeitgenössischen Autoren aufzwingen. Die Menschen werden aus den vormals gesicherten bürgerlichen Verhältnissen herausgerissen und vor die Wahl gestellt, Verräter oder Held zu sein. Korrelativ zu den historischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs erscheint eine den vorherigen Generationen unbekannte Literatur der Grenzsituationen, die die Tiefen der conditio humana auslotet. Ihre vorherrschenden Probleme sind der Mensch, der sich in der Geschichte realisieren muß, das Verhältnis von Moral und Politik sowie die Frage nach den objektiven Folgen menschlichen Handelns. Gerade die Rolle des Intellektuellen wird hier zum Prüfstein für eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei: So wie sich der Intellektuelle von keiner Partei seine Autonomie absprechen lassen dürfe, so dürfe sich auch niemals die Literatur irgendeiner Partei zu propagandistischen Zwecken unterwerfen. Die Freiheit der Person muß mit dem Sozialismus versöhnt werden, der lediglich eine Stufe auf dem Weg zu einer Herrschaft der Freiheit bzw. - wie es im Anschluß an Kant heißt - dem 'Reich der Zwecke' darstellt. Sartre selbst hat mit der Gründung einer nichtkommunistischen Linkspartei, des 'Rassemblement Démocratique Révolutionaire' (RDF), nach dem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus gesucht.

© JB

Quelle

  • Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg 1981