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Die geistesgeschichtliche Methode kann als Antwort auf den im späten 19. Jahrhundert vorherrschenden positivistischen Zugang zu literarischen Werken gelten. Will der Positivismus als naturwissenschaftlich orientierte Methode einzelne Erscheinungen im Werk erklären, so zielt die Geistesgeschichte dahin, ein Werk in seiner Ganzheit zu verstehen. 'Ganzheit' meint hier nicht das Kunstwerk als künstlerisches Ganzes in all seinen Einzelteilen und Zusammenhängen, sondern das Kunstwerk als Ausdruck des einheitlichen Geistes seiner Zeit. Die Dichtung bildet nicht soziale und historische Bedingungen ab, auch dies wäre eine tendenziell positivistische Vorstellung, sondern ist - nach Wilhelm Dilthey - ein freier individueller Erlebnisausdruck, in dem sich im Idealfall die Gesamtstruktur einer historischen Epoche - also ihre Substanz, ihr Geist - spiegelt. Die Geistesgeschichtler gehen also von der Grundannahme aus, daß sich von allen gesellschaftlichen Erscheinungen (Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst etc.) der Geist einer Epoche ablesen läßt. Diese allgemeinen Gesetze des Geistes können vom Literaturwissenschaftler zwar nicht direkt beobachtet werden, aber er kann ihre Gehalte und Ideen verstehen. Zusammenfassend kann man sagen, daß ein literarisches Werk auf die Manifestation des Zeitgeistes reduziert wird und das Kunstwerk an sich nicht mehr im Vordergrund steht. Dies ist eine Kritik, der sich der geistesgeschichtliche Ansatz häufig ausgesetzt sah. Aber auch ihre umfassende und synthetisierende Fragestellung erschien problematisch, forderte sie doch auch in der Methode gerade zur Spekulation heraus.

Die Blütezeit der Geistesgeschichte waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts; ihre Begründer der schon erwähnte Dilthey und Rudolf Unger, der 1908 mit seinem programmatischen Aufsatz "Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft" viele Monographien und Überblicksdarstellungen anstieß. Eines der bekanntesten Erzeugnisse dieser historischen Methode ist Der Geist der Goethezeit (1923-1953) von Korff.

©rein

Sekundärliteratur