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Der Roman ist eine der formenreichsten und wandlungsfähigsten epischen Dichtarten. Als legitimer Erbe des Epos ist er zur literarischen Form des bürgerlichen Zeitalters schlechthin geworden. In ihm wird in epischer Breite eine Realität entfaltet, die aber nicht mehr über die Homogenität und selbstverständliche Sinnhaftigkeit des Epos verfügt. Der Prosa-Roman setzt eine Welt voraus, die nicht mehr von Idealen, sondern von Nützlichkeiten bestimmt ist. Deren Abbildung und zugleich Kritik ist die Darstellungsabsicht des Romans. Sie wird - ungeachtet aller stofflichen und strukturellen Vielfalt - in der Gestaltung eines konfliktreichen Weges sichtbar, den ein einzelner durch die als fremd und feindlich empfundene Welt antritt. Dieser Weg kann als Desillusionierungs- und zugleich Bewußtwerdungsprozeß verstanden werden, den das "problematische Individuum" durch die "kontingente Welt" (Lukács, S. 67) beschreitet. Hegel sah im "Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse" sowohl den Gegenstand als auch den Motor des Romans.

Die Autonomie des Individuums, die von der bürgerlichen Epoche erst entdeckt worden war, wird von dieser selbst im Medium des Romans in ihrer Problematik und Scheinhaftigkeit gezeigt. Dabei gewinnen Einzelwerke wie auch traditionsstiftende Romantypen ihr jeweiliges Profil aus der spezifischen Anlage des Konflikts und den verschiedenen Möglichkeiten seiner Lösung. Vor allem ist es die geschichtlich fortschreitende Differenzierung der Perspektivik, der Zeitgestaltung, der Motivgestaltung und der Redeverwendung, die der Romanprosa ungeahnte und immer neue Darstellungsqualitäten erschließt.

Als eigenständige epische Art bildet sich der Roman allmählich im 13. bis 16. Jahrhundert, zum Teil aus den Prosaauflösungen der höfischen Epen, heraus. Mit den Erzählungen von Rittertugend und -liebe wird weiterhin ein gebildetes Publikum aus der Oberschicht unterhalten. Große Wirkung haben dabei - auch in Deutschland - zum Beispiel der abenteuerliche Ritterroman Amadis de Gaule des Spaniers G. Rodriguez de Montalvo (um 1490) oder der französische Schäferroman Astrée (1607-27) von Honoré d'Urfé. In der Unterschicht entstehen zur gleichen Zeit die sogenannten 'Volksbücher', die schwank- und märchenhafte Stoffe mit abgesunkenem höfischen Erzählgut vermischen. Die neue Technik des Buchdrucks verschafft ihnen bald eine weite Verbreitung. Durch ihre Konzentration auf eine Hauptfigur und die Reihung ihrer verschiedenen Abenteuer bereiten sie zugleich einem Romantyp den Weg, der durch die Jahrhunderte hindurch einen großen Erfolg haben wird: dem Picaro-Roman (Schelmenroman). In seinem Zentrum steht ein Desillusionserlebnis des Helden, der fortan die Welt bereist und in einer Reihe von Abenteuern die Gesellschaft teils satirisch, teils kritisch "von unten" unter die Lupe nimmt. Nach dem Erfolg des anonymen spanischen Lazarillo de Tormes (1554) und Mateo Alemáns Guzman de Alfarache (1599-1604) erschienen in Frankreich unter anderem der Gil Blas (1717-35) von Alain-René Lesage und in Deutschland der Abenteuerliche Simplicissimus (1669) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen als Gipfelpunkte pikaresken Erzählens.

Mit zwei Einzelwerken von weltliterarischem Rang werden im 17. Jahrhundert die verschiedenen Möglichkeiten der Romanform deutlich. In Miguel de Cervantes' Don Quijote (1605/15) findet nicht nur eine Abrechnung mit den immer noch beliebten Ritterromanen statt. Darüber hinaus wird die groteske Tragik eines Individuums gestaltet, das keinen Bezug mehr zur Wirklichkeit finden kann. Lukács sah in diesem Roman den "ersten großen Kampf der Innerlichkeit gegen die prosaische Niedertracht des äußeren Lebens" (Lukács, S. 104). Madame de La Fayettes La Princesse de Clève (1678), hingegen entwirft ein Seelendrama von Leidenschaft und Konvention, das die psychologischen Analysen im Roman des 18. Und 19. Jahrhunderts wesentlich vorbereitet.

Galt der Roman bisher als eine minderwertige Form, so wird er im 18. Jahrhundert zur führenden epischen Dichtart. Das auf Innerlichkeit gerichtete Interesse eines nun meist kleinbürgerlichen Publikums findet sein Medium vor allem im Briefroman. Dessen Struktur erlaubt Ich-Analysen von größter Unmittelbarkeit. In ihm ist sentimental-moralisierendes Erzählen (wie in Samuel Richardsons Pamela von 1740) ebenso möglich wie umfassende Kulturkritik (in Jean Jacques Rousseaus Nouvelle Héloise von 1761) oder die Darstellung des tragischen Scheiterns an der gesellschaftlichen Umwelt (Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1772).

Trotz des großen Erfolges dieses sehr subjektivierten Romantyps wird die deutsche Tradition von einer anderen Variante geprägt werden, die in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) beispielhaft ausgeprägt ist: vom Entwicklungsroman (Bildungsroman). Er beschreibt den Weg eines jungen Menschen durch die Gesellschaft und ihre Institutionen und seine Entfaltung in der Begegnung mit den geistigen Mächtigen der Epoche. Das darin postulierte Ideal der "allseitigen Bildung" wird von Goethe selbst in den Wanderjahren (1829) zugunsten der Forderung nach gesellschaftlich nützlicher Arbeit zurückgenommen. Die realistischen deutschen Erzähler bleiben dem Modell des Entwicklungsromans im 19. Jahrhundert weitgehend verpflichtet (z.B. Gottfried Keller mit Der grüne Heinrich von 1855/80, Adalbert Stifter in Der Nachsommer von 1857, oder auch Wilhelm Raabe). Die Autoren des französischen Realismus hingegen bilden den Roman zu einem wichtigen Instrument der Gesellschaftsanalyse aus. So beispielsweise Gustave Flaubert, der in Madame Bovary (1857) oder L'education sentimentale (1870) das Scheitern illusionierter Individuen gestaltet, so auch Honoré de Balzac und Stendhal, die in ihrem breiten Romanwerk die Mechanismen und Gesetze einer korrupten bürgerlichen Gesellschaft offenlegen. Diese Form des Gesellschaftsromans findet in Deutschland relativ wenige Nachfolger. Allenfalls Theodor Fontane oder die späteren Romane Heinrich Manns (Der Untertan, 1916) mit ihrer satirischen Zuspitzung können genannt werden.

Der realistisch-kritische Ansatz des Romans verschärft sich im 20. Jahrhundert zur Skepsis gegenüber der eigenen Form - und zum Mißtrauen gegen die realistisch erzählbare äußere Wirklichkeit. Es entwickelt sich ein Bewußtsein, mit solcher Wirklichkeitsschilderung weder die Unmittelbarkeit subjektiven Erlebens noch tatsächlich die Wahrheit umfassender gesellschaftlicher Prozesse erfassen zu können. Daher drängt der Roman zur Zerschlagung seiner herkömmlichen Form, was zu einer nochmaligen Erweiterung seiner Darstellungsmöglichkeiten führt. Beispielhaft geschieht das etwa in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913-27), der den Ich-Roman zum höchst differenzierten Instrument der Selbst- und Zeitanalyse ausbildet. Bei James Joyce (Ulysses, 1922) oder Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz, 1929) werden die Kontinuität und Eindeutigkeit der Handlung aufgelöst in ein Ineinanderfließen verschiedener Zeit- und Realitätsebenen. Mit neuartigen Stilmitteln wie dem "stream of consciousness" (vgl. Formen der Bewußtseinswiedergabe) wird versucht, den Bereich des Unbewußten immer stärker in die epische Handlung mit einzubeziehen.

Die Entwicklung dieses modernen Romans geht einher mit der Rede von seiner "Krise". Die Unsicherheit gegenüber seiner eigenen Form drückt sich häufig darin aus, daß selbstreflexive, erörternde Elementen oder gar weite essayistische Passagen in den Text aufgenommen werden. (vgl. Romantheorie im Roman) Der sogenannte postmoderne Roman, etwa in der Ausprägung, die Umberto Eco dem Begriff gegeben hat (Il nome della rosa von 1980), integriert spielerisch die verschiedensten Elemente und versucht, mit metafiktionalen Verfahren (vgl. metafiction) das schon Erzählte doch noch einmal anders und neu zu sagen.

Der Roman, der ursprünglich eine naive Erzählung ritterlicher Abenteuer war, hat sich als ein äußerst leistungsfähiges literarisches Medium erwiesen und scheint sich auch gegen konkurrierende Erzähl-Medien wie den Film zu behaupten. Immer noch wird in ihm der Versuch unternommen, in kritischer, utopischer oder spielerischer Absicht die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu führen. Zu recht kann er immer noch als Experimentierfeld des menschlichen Möglichkeitssinns (Robert Musil) gelten.

© JV und SR

Quelle

  • Georg Lukács: Theorie des Romans, Darmstadt u.a. 1987.
  • Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesung über die Ästhetik.

Sekundärliteratur

  • M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989.
  • B. Hillebrand: Theorie des Romans, München 1980.
  • J. Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, München 1974.