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Seit den siebziger Jahren ist der Begriff der 'Intertextualität' zu einem zentralen Konzept der Literaturwissenschaft und vor allem der Erzählforschung (Narratologie) geworden. Grundsätzlich kann man zwei unterschiedliche Ansätze unterscheiden. Im ersten - eher theoretisch orientierten - wird 'Intertextualität' sehr weit gefaßt. Hier steht die Offenheit und der prozessuale Charakter der Literatur im allgemeinen im Mittelpunkt. Im zweiten Ansatz geht es eher darum, die Beziehungen zwischen konkreten Texten zu klären und zu systematisieren. Er ist besonders für Aspekte der praktischen Analysearbeit fruchtbar (vgl. Intertextualität - engere Begriffsfassung - nach Gérard Genette).

Der erste, weit gefaßte Intertextualitätsbegriff geht auf die Theorie der Dialogizität von Michail Bachtin zurück. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde der Literaturwissenschaftler und Philosoph in der Sowjetunion ausgegrenzt und verfolgt. Seiner Auffassung nach sind die Wörter, die wir benutzen, immer schon von den Spuren geprägt, die andere Sprecher mit ihren jeweiligen Absichten in ihnen hinterlassen haben. Im Roman sieht Bachtin demzufolge nicht mehr eine monolithische Einheit, sondern eine "künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt". (Bachtin, S. 157) Die bulgarische Kulturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva, die 1965 nach Paris emigrierte, hat Bachtin im Westen bekannt gemacht. Gemeinsam mit anderen Forschern entwickelte sie Bachtins Ideen weiter und prägte den Begriff der 'Intertextualität' als Zentralkategorie einer umfassenden Textwissenschaft. Ihr zufolge ist jeder Text ein "Mosaik von Zitaten". Im "Raum eines Textes überlagern sich mehrere Aussagen, die aus anderen Texten stammen und interferieren" (Kristeva, S. 245).

Diese Theorie der 'Intertextualität' beschreibt also generelle Eigenschaften aller Texte und nicht nur die vom Autor beabsichtigten Beziehungen und Anspielungen auf andere Texte.

© SR

Quelle

Sekundärliteratur