Startseite
Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Sonderform des Romans, die als Abfolge bzw. Wechsel von fingierten Briefen eines bzw. einer oder mehrerer Korrespondent(inn)en komponiert ist. Bisweilen werden sie durch andere autobiographische Zeugnisse (Tagbuchnotizen) oder Kommentare eines "Herausgebers" ergänzt. Der Briefroman erlebte seine Ausprägung und Blütezeit im Europa des 18. Jahrhunderts, in engem Zusammenhang mit der lebhaften Briefkultur der Zeit. "Empfindsame" Briefe und Briefwechsel waren für das neue Lesepublikum, besonders auch das weibliche, ein faszinierendes Medium der Gefühlserkundung, -verfeinerung und -mitteilung. Die Kunstform solcher Brieffolgen oder -wechsel, eben der Briefroman, steigerte diese Funktion noch und modellierte sie nach den Bedürfnissen der Leser(innen). Damit gewann auch der Roman eine neue Dimension und Intensität: Die erzählerische Ich-Form und die besondere Zeit-Struktur erlaubten offenere und subtilere Selbstdarstellung als im herkömmlichen Er/Sie-Roman; sie förderten die zunehmende Verlagerung der "Handlung" nach innen (Psychologisierung); sie erlaubten unmittelbarere Anteilnahme der Lesenden am Geschehen, ja sie provozierten häufig deren distanzlose Identifikation, sei es mit den Schreibenden, sei es mit den Briefempfängern. Das "Streben nach dieser psychologischen Distanzlosigkeit" veränderte das literarische Gefüge tiefgreifend: Der "Autor macht den Leser zum Vertrauten" (Arnold Hauser), und diese neue Intimität ist idealer Ort für die diskursive Herausbildung neuer, wesentlich bürgerlicher Normen in Moral und Ästhetik.

Maßstabsetzend und in ganz Europa viel gelesen, nachgeahmt und parodiert wurden die Briefromane von Samuel Richardson (Pamela, 1740; Clarissa, 1748). Die Briefe Pamelas erzählen die Geschichte der "belohnten Tugend" und wehrhaften Unschuld als sozialen Aufstieg des Dienstmädchens zur gutbürgerlichen Ehefrau. In den Folgewerken, die mehrperspektivisch die Psychologie der Verführung und des Lasters ausbreiten, wird immer deutlicher, wie das Leseinteresse sich (unterhalb der moralisierenden Programmatik) durchaus auch auf die Darstellung der Unmoralität richtete. Während Jean-Jaques Rousseau mit seiner Nouvelle Héloïse (1761) das Genre weiter verinnerlichte und um den Kern des "empfindsamen Geständnisses" organisierte, entwickelte Choderlos de Laclos in den Liaisons Dangereuses (1782; dt. Gefährliche Liebschaften, 1783) analytisch kühl einen multiperspektivischen Mechanismus der Intrige und der Ausschweifung, der thematisch stark auf die Romane des Marquis des Sade eingewirkt hat. In Deutschland markierte nach mehr oder weniger populären Werken wie Sophie v. La Roches Fräulein von Sternheim (1771) Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) einen weltliterarisch bedeutsamen Gipfelpunkt der Gattung. Er radikalisierte die monoperspektivische Form und die Problematik des Individuums bis hin zum krisenhaften Zerfall von Briefform und Ich-Identität: Werthers Scheitern wird zuletzt nur noch in fragmentarischen Notizen bzw. den Eingriffen des "Herausgebers" faßbar. Im Roman des 19. Jahrhunderts wurde die Briefform von Deskription, Dialog und Innerem Monolog fast vollständig zurückgedrängt.

©JV

Sekundärliteratur

  • D. Kimpel: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland, 1962.
  • K.R. Mandelkow: Der deutsche Briefroman, in: Neophilologus, 1960.