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Johann Gottfried Herder: Fragmente einer Abhandlung über die Ode (1765)

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Herder bestimmt in seinen etwa 1765 entstandenen Fragmenten einer Abhandlung über die Ode die Lyrik als ursprüngliche Ausdrucksform der Empfindung, die der "Logik des Affekts", nicht der Vernunft, gehorche. Diese Definition von Lyrik als ursprünglichster, subjektivster Gattung wurde nicht nur von Herders Zeitgenossen aufgenommen, sondern beieinflußte bis ins 20. Jahrhundert das Verständnis von Gedichten:

Das erstgeborne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst und der Keim ihres Lebens ist die Ode. [...] In jeder Ode zeigt sich also der Faden der Leidenschaft: und so wie man allerdings Schönheit und Vollkommenheit unterscheidet: so ist Pindars Logik der Aristotelischen in gewissem Verstande eben zuwider, und Pindarn eine philosophische Ordnung und Gründlichkeit schuld geben zu wollen, wird beinahe lächerlich. Die heißeste Leidenschaft und die kälteste Empfindung der Vernunft sind in ihrer Wahrheit und Form so weit verschieden, daß ihr Maß verschwindet: Vernunft und Gefühl bleiben die beiden Ende der Menschheit. Eine deutliche, durch Worte bewiesene Empfindung ist ebenso ein Unding als der feurige Gang der Leidenschaft, der abgemessen, wie ein Philosoph, gehen soll.

Die Logik des Affekts – man verzeihe mir diesen anscheinenden Widerspruch – ist die kürzeste und schwerste aller Logiken im Reich der Wirklichkeit und Möglichkeit. In ihm empfindet man die sinnlich größte Einheit, ohne sie mit der Übereinstimmung des Verstandes vergleichen zu können; die wahrste Sinnlichkeit, unter der ein Beweis beinahe bis zum Lächerlichen erniedrigt ist: die rührendste Mannichfaltigkeit ohne Kette des Mathematikers. (S. 62, 73)

©TvH

Quelle

  • Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 32, Berlin 1899.

Sekundärliteratur

  • G. Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744-1803, Hamburg 1987.