Emil Staiger

Drucken

* 08.02.1908, Kreuzlingen
† 28.04.1987, Horgen

Germanistischer Literaturwissenschaftler

Staiger war durch seine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Zürich und durch Bücher wie Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) oder Grundbegriffe der Poetik (1946) seit den 1940er Jahren einer der renommiertesten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler. Nach Ende des Zweiten Weltkrieg trug er maßgeblich zum methodischen Siegeszug der sogenannten werkimmanenten Interpretation auch in (West-)Deutschland bei.

In literaturtheoretischer Hinsicht bemühte er sich um eine überzeitliche, anthropologische Bestimmung literarischer Kategorien, z.B. der dichterischen Gattungen, in denen er "fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins" ausgedrückt sah: - im Lyrischen etwa die Dimension der Vergangenheit, im Epischen die der Gegenwart und im Dramatischen die der Zukunft. Eine punktuelle Anlehnung an die philosophische Phänomenologie bzw. an die Existenzphilosophie Martin Heideggers ist nicht zu verkennen; dennoch bleibt die hermeneutische Reflexion - besonders was die Historizität von Text und Interpretation angeht - sehr verkürzt. Literaturhistorisch galt Staigers Interesse besonders der klassisschen und nachklassischen Literatur deutscher Sprache. Aufsehen erregte, im Kontrast dazu, 1967 seine scharfe Polemik gegen die Gegenwartsliteratur (sog. Zürcher Literaturstreit).

Staigers Vortrag Die Kunst der Interpretation (1955) läßt die grundsätzliche Übereinstimmung mit (und einen gewissen Unterschied zu) Wolfgang Kaysers Position leicht erkennen: "Als wissenschaftliche Richtung [...] hat sich die Interpretation - die Stilkritik oder immanente Deutung der Texte - erst seit zehn bis fünfzehn Jahren durchgesetzt. Erst jetzt wird erklärt, den Forscher gehe allein das Wort der Dichter an; er habe sich nur um das zu kümmern, was in der Sprache verwirklicht sei." Staiger will im Meinungsstreit über diese Richtung "versuchen, ein Beispiel zu geben, eine Interpretation, und [...] bei jedem Schritt überlegen, wohin er führt und ob er wissenschaftlich verantwortet werden kann."

Anhand von Eduard Mörikes Gedicht Auf eine Lampe zeigt Staiger nun seinen methodischen Weg vom naiven Wortverständnis über die affektive Einfühlung zur sogenannten Stilkritik. "Diese Verse bedürfen keines Kommentars. Wer Deutsch kann, erfaßt den Wortlaut des Textes." Aber der Interpret versucht "etwas über die Dichtung auszusagen, was ihr Geheimnis und ihre Schönheit, ohne sie zu zerstören, erschließt". Möglich scheint dies nur auf Grundlage einer affektiven Wirkung: "die Verse sprechen uns an; wir sind geneigt, sie wieder zu lesen, uns ihren Zauber, ihren dunkel gefühlten Gehalt zu eigen zu machen. [...] Das allersubjektivste Gefühl gilt als Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen."

Allerdings soll das affektive Berührtsein, ja die 'Liebe' zum Text in analytische Erkenntnis umgesetzt werden. Staiger möchte "begreifen, was mich ergreift". Alle Beobachtungen am Text (etwa zu Wortwahl, Klang, Metrik und Rhythmus) haben ein gemeinsames Ziel: die stilistische Individualität des Werkes zu bestimmen. "Wir nennen Stil das, worin ein vollkommenes Kunstwerk - oder das ganze Schaffen eines Künstlers oder auch einer Zeit - in allen Aspekten übereinstimmt. [...] Im Stil ist das Mannigfaltige eins. Er ist die Dauer im Wechsel. Daher denn alles Vergängliche unvergänglichen Sinn gewinnt durch Stil. Kunstgebilde sind vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig sind."

Solche Stilkritik ist nur teilweise erlernbar, zum anderen Teil bleibt sie intuitiv. Daraus folgt auch für Staiger: "Nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht." (S. 7 ff.)

Seit Mitte der sechziger Jahre wurde immer deutlicher Kritik an Staigers Positionen (wie auch an denen von Wolfgang Kayser) vorgetragen. Sie richtete sich gegen die ahistorische Vorstellung vom dichterischen Werk, die leitende Rolle des Gefühls bei der Interpretation, den engen, aber kaum begründeten Kanon der wertvollen Werke - und nicht zuletzt auch gegen die elitäre Bestimmung der literaturwissenschaftlichen Tätigkeit. Aus historischem Abstand hat später Klaus Berghahn eine abwägende Bewertung dieser Positionen vorgenommen.

© JV

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur