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Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im modernen Roman (1954)

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In diesem kurzen, aber anregenden Essay, der später im ersten Band der Noten zur Literatur (1958) erscheint, stellt sich Adorno (wie auch in dem dort vorausgehenden Aufsatz Über epische Naivität) in die von Hegel begründete und von Lukács fortgeführte Tradition einer Geschichtsphilosophie der Erzählformen. Wenn er einleitend vom Roman sagt, er "war die spezifische literarische Form des bürgerlichen Zeitalters" (S. 61), dann verweist er - ähnlich wie sein Freund Walter Benjamin im Erzähler-Aufsatz, schon darauf, daß der erzählenden Literatur im 20. Jahrhundert durch "die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film" viele ihrer "traditionellen Aufgaben" entzogen wurden (S. 62). Zugleich ist ein epochaler Erfahrungsverlust zu konstatieren; beides zusammen führt den Romancier in eine Zwickmühle: "es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt." (S. 61)

Damit rückt für Adorno die Frage nach der gegenwärtig und künftig noch möglichen (Erkenntnis-)Leistung des Romans ins Zentrum: "Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft." (S. 64) Mit diesem im Original optisch herausgehobenen Programmsatz fordert Adorno die Überwindung der von Balzac und Flaubert exemplarisch entwickelten erzählerischen Illusionstechnik, die freilich auch noch vom späteren Lukács für sein Konzept des Sozialistischen Realismus propagiert wurde. Wenn Adorno nun vom modernen Roman erwartet, die "Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, [...] die universale Entfremdung und Selbstentfremdung" (S. 64) aufzudecken, dann findet er sich unversehens an der Seite seines Lieblingskontrahenten Brecht (der von seinem Epischen Theater ja etwa ganz ähnliches erwartet).

Warum aber gerade der Roman? Man darf, ohne daß Adorno hier explizit würde, an die außerordentliche Flexibilität, Integrations- und Innovationskraft der Prosaform denken, wie sie etwa von dem Romancier Henry James oder dem Literaturtheoretiker Michail Bachtin beschrieben worden ist. Gerade die von Adorno geschätzten und erwähnten Romanciers der klassischen Moderne haben - durchaus unterschiedliche - Techniken ausgebildet, die ihre Leser/innen 'hinter die realistische Fassade' blicken lassen: Prousts "subjektivistisch extreme" Erinnerungsprosa; das schon von Lukács beobachtete und benannte "Reflektierenmüssen" - etwa bei Musil oder Thomas Mann; schließlich (und nur scheinbar im Gegensatz dazu) "Kafkas Parabeln" und die "epischen Kryptogramme von Joyce" (S. 66ff.).

Dem soeben aus den USA zurückgekehrten Exilanten Adorno geht es im Jahr 1954 - hier wie in ähnlichen Arbeiten - wesentlich darum, die ästhetische Tradition der klassischen Moderne wieder einzubürgern, die von den Nazis zerstört worden und der Nachkriegsgeneration (etwa auch den jungen Autoren) kaum mehr bekannt war. Wie nötig dies war, zeigt sich, wenn man Adornos Standort-Essay mit Ausführungen des damals tonangebenden Germanisten Wolfgang Kayser parallel liest, der im gleichen Jahr 1954 den "Tod des auktorialen Erzählers" (also die strukturelle Modernisierung der Romanform seit dem 19. Jahrhundert) kurzerhand mit dem "Tod des Romans" gleichsetzt.

© JV

Quelle

  • Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im modernen Roman, in: ders: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1958, S. 61-72.

Sekundärliteratur

  • N. Bolz: Geschichtsphilosophie des Ästhetischen. Hermeneutische Rekonstruktion der "Noten zur Literatur" Th. W. Adornos, Hildesheim 1979.
  • H. Schäble: Theodor W. Adorno, Reinbek bei Hamburg 1989.
  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl., Opladen 1990, Kap. V.