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histoire und discours

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Verallgemeinernd kann man sagen, dass sich ein narrativer Text aus zwei Ebenen zusammensetzt, die eng aufeinander bezogen sind. Dabei handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen, den Text ('discours'), der eine Abfolge von Ereignissen, eine Geschichte ('histoire') repräsentiert. Die fundamentale Opposition besteht also zwischen der Ebene der 'histoire', die ein reales oder fiktives Geschehen bezeichnet (das Was der Darstellung), und der Ebene des 'discours', in der das Geschehen sprachlich dargestellt wird (das Wie der Darstellung).

Die lange und verworrene Geschichte des Begriffspaars 'histoire vs. discours' weist schon darauf hin, daß es sich hierbei um eine zentrale Kategorie, um eine der wesentlichsten Unterscheidungen innerhalb der Erzähltheorie handelt. Im Umkreis des Russischen Formalismus definierte Boris Tomaševski in seinem Buch Theorie der Literatur (1925) die 'fabula' als die Summe der Ereignisse, den Stoff, der einer Erzählung zugrunde liegt, während er mit 'sjuzet' ihre sprachliche Verknüpfung im Text bezeichnete. Etwa zur gleichen Zeit stellte der englische Romancier und Literaturwissenschaftler E.M. Forster (1927) die Begriffe 'story' (Erzählung von Ereignissen in ihrer zeitlichen Reihenfolge) und 'plot' (Erzählung von Ereignissen, die den Akzent auf die Kausalität legt) einander gegenüber. Wieder etwas später, in der Hoch-Zeit strukturalistischer Forschungen in Linguistik und Literaturwissenschaft, übernahm der Erzähltheoretiker Tzvetan Todorow das Begriffspaar 'discours / histoire' von seinem Kollegen Émile Beneviste, der in seinen sprachwissenschaftlichen Forschungen den 'discours' als eine subjektiv bestimmte Sprachverwendung definiert hatte, dem mit der 'histoire' eine objektive, von einer Sprecherinstanz freie Sprachverwendung gegenübersteht. Todorow verknüpfte die Begriffe Benevistes mit den Beobachtungen Tomaševskis. Durch die Dominanz strukturalistischer Betrachtungsweisen hat sich in der Folgezeit das Oppositionspaar 'discours / histoire' weitgehend durchgesetzt. Innerhalb dieser Tradition stehend differenzierte Gérard Genette das Oppositionspaar in Hinsicht auf eine erzähltheoretische Analyse noch etwas weiter aus: Er hält zwar am Begriff 'histoire' fest, ersetzt aber den des 'discours', indem er ihn in 'récit' ('Erzählung': narrativer Text) und 'narration' ('Narration': Akt des Erzählens) unterteilt.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Begriffe können leicht den Eindruck entstehen lassen, alle erwähnten Literaturwissenschaftler und Linguisten würden von grundverschiedenen Dingen sprechen. Tatsächlich sind die jeweiligen Begriffe natürlich nicht deckungsgleich und einfach austauschbar, dennoch läßt sich unter ihnen allen eine gemeinsame Basis beobachten.

Besondere Bedeutung gewinnt diese Zweiteilung für die literarische Darstellung von Zeit-Erfahrung (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit).

© SR

Sekundärliteratur

  • G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
  • M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 20-26.
  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, S. 95-99.