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Rezeptions- und Wirkungsästhetik

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(engl.: reader-response-criticism)

Der Romanist Hans Robert Jauß stellt 1967 fest, daß Literaturgeschichtsschreibung und akademische Literaturinterpretation eine wesentliche Instanz vernachlässigten: den Leser. In seiner Rede Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft entwirft er das Projekt einer Literaturwissenschaft, die den Sinn eines Werkes weder in der bloßen Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität (Produktionsästhetik [Querverweis Literatursoziologie]) verortet noch allein aus den Textstrukturen ableiten will (Darstellungsästhetik). Vielmehr wird der "ästhetische Gehalt" erst im Akt des Lesens (Wolfgang Iser), in einem ‚dialogischen‘ Kommunikationsprozeß zwischen Text und Leser hervorgebracht. Demzufolge gibt es kein richtiges oder falsches Verstehen, keinen objektiv-zeitlosen Sinn eines Werkes. Ebensowenig darf aber die Negation bzw. die völlige Beliebigkeit der Interpretation postuliert werden. Jauß plädiert statt dessen für die hermeneutische Rekonstruktion [Querverweis Hermeneutik-Übersicht] der historisch und sozial unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen der Leser ("Erwartungshorizont"), d.h. für eine Rekonstruktion jener Fragen, "auf die der Text [den zeitgenössischen Lesern] eine Antwort gab." (Jauß, S. 136) Damit schließt er an die philosophische Hermeneutik und besonders an die von Hans Georg Gadamer entwickelte Kategorie der Wirkungsgeschichte an.

Methodisch schlägt Jauß vor, die Literaturgeschichtsschreibung anhand der folgenden drei Aspekte neu zu formieren: 1. Die diachrone Betrachtung eines Werkes in einer literarischen Reihe, d.h. seine Beziehung zu vorhergehenden und ihm nachfolgenden Werken, denen es selbst wiederum als Folie oder als ‚Horizont‘ dient. 2. Die Untersuchung der strukturellen Beziehungen eines Werkes zu anderen – gleichzeitigen – Werken im literarischen System. 3. Die Rekonstruktion der Beziehung der Literaturgeschichte zur allgemeinen Geschichte.

Es geht also nicht nur um die empirisch-historische Leserschaft eines Werkes, sondern zugleich um die in ihm entworfene Vorstellung dieser Leser und die ‚Appelle‘, die das Werk an sie richtet. Mit Blick auf die Rezeption weist Jauß jene Literaturgeschichtsschreibung als "Pseudogeschichte" zurück, die ‚objektive‘ Daten des Literaturbetriebs positivistisch verkettet. Dagegen stellt Jauß die Erforschung von kritischen oder affirmativen Bezugnahmen, der Überlieferungsprozesse oder der Abläufe von Vergessen und Wiederentdecken eines Werkes in den Vordergrund: "Es gibt Werke, die im Augenblick ihres Erscheinens noch auf kein spezifisches Publikum zu beziehen sind, sondern den vertrauten Horizont literarischer Erwartungen so völlig durchbrechen, daß sich ein Publikum für sie erst allmählich heranbilden kann. Wenn dann der neue Erwartungshorizont allgemeinere Geltung erlangt hat, kann sich die Macht der veränderten ästhetischen Norm daran erweisen, daß das Publikum bisherige Erfolgswerke als veraltet empfindet und ihnen seine Gunst entzieht." (S. 135)

Rezeption selbst faßt Jauß als "geschichtsbildende Energie" (S. 127) auf, die vermittels "fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung" (S. 131) über die ästhetische Erfahrung hinausreicht: "Die gesellschaftliche Funktion der Literatur wird erst dort in ihren Möglichkeiten manifest, wo die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt, sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt." (S. 148)

Sein anglistischer Kollege Wolfgang Iser klammert hingegen die historischen Rezeptionsbedingungen aus und legt eine umfassende Theorie des Leseprozesses vor. Nicht das Werk, sondern der kommunikative Akt kennzeichne den ästhetischen Gegenstand, – ein Akt, der von der Textstruktur gelenkt wird. Denn dem Text ist eine Leserrolle eingeschrieben, der "implizite Leser", eine Dialogstruktur, die Iser analytisch rekonstruieren will. An jedem Punkt seiner Lektüre bildet der Leser – aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit dem Text – neue Hypothesen und Erwartungen an den Fortgang, die in der weiteren Lektüre bestätigt, modifiziert oder zurückgewiesen werden. "Der Leser reagiert im Rezeptionsvorgang fortwährend auf das, was er selbst hervorgebracht hat, denn er nimmt bestimmte Ausgleichsoperationen vor, welche die Tendenzen, die der gebildeten Konsistenz abträglich sind, zu integrieren versuchen." (Müller in Bogdal, S. 185f.)

Während des Lesens wird der das Lesen regulierende Code also erst aufgebaut: Der Leser bringt sein Weltwissen und sein Kombinationsvermögen ins Spiel, um die im Textgefüge ausgesparten Anschlußmöglichkeiten und die seiner Ausfüllung überlassenen "Leerstellen" zu konkretisieren bzw. zu ‚füllen‘. Sein "Erwartungshorizont" setzt sich dabei nicht einfach durch, sondern wird durch den ‚Widerstand‘ des Textes gebrochen und erweitert, sowohl was die literarischen Verfahren, als auch was sein Weltwissen (z.B. seine moralische Einstellung) angeht.

Sowohl Jauß‘ Rezeptionsästhetik als auch Isers Wirkungsästhetik – gelegentlich unter dem Begriff der ‚Konstanzer Schule‘ zusammengefaßt – haben die Methodenentwicklung der deutschen Literaturwissenschaft nachhaltig beeinflußt.

© pflug

Wichtige Schriften

  • W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, München 41994, S. 228-252.
  • H.R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, München 41994, S. 126-162.
  • H. Weinrich: Für eine Literaturgeschichte des Lesers, in ders.: Literatur für Leser, Stuttgart 1970, S. 23-34.

Sekundärliteratur

  • S. R. Suleiman, I. Crosman (Hg.): The Reader in the Text, Princeton 1980.
  • U. Eco: Lector in fabula, München 1990.
  • J. E. Müller: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien, Opladen 1990, S. 176-200.