Ästhetisch fundierte Literaturkritik: Susan Sontag

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Die prominente amerikanische Literatur- und Theaterkritikerin wendet sich im 1964 verfaßten Titelessay ihres Bandes Against Interpretation (1966 - dt. Kunst und Antikunst, 1980) sehr grundsätzlich gegen eine Weise der Interpretation, die hinter dem literarischen Text eine Art von Subtext zu erkennen sucht, der die 'eigentliche' Bedeutung enthalte. Solche Interpretationen beziehen sich also auf einen Sinn, der dem nicht interpretierenden Auge verborgen bleibt. Dabei hat Sontag vor allem inhaltsorientierte, beispielsweise marxistisch-ideologiekritische und psychoanalytische Interpretationen im Blick, die sie geradezu in der Rolle von Giftmördern sieht, die die ursprüngliche Sensibilität für Kunstwerke 'vergiften'. Die theoriegeleitete Suche nach dem 'eigentlichen' Text, dem Sinn hinter den Wörtern, entzieht nach Sontags Meinung die Kunstwerke der sinnlichen Wahrnehmung und der individuellen ästhetischen Erfahrung.

Mit ihrer polemisch zugespitzten Forderung, die Hermeneutik durch eine "Erotik der Kunst", also eine sinnlich-genußvolle, durchaus auch körpergebundene ästhetische Erfahrung zu ersetzen, reagiert Sontag zweifellos zeit- und kontextgebunden auf eine bestimmte, theoriegeleitete und reduzierende Hermeneutik besonders in der Literaturkritik. Sie bringt ihre persönliche Affinität zur europäischen Avantgarde und zur amerikanischen Gegenwartskunst zur Geltung; und sie argumentiert aus der Sicht und im Interesse der Leser (Kunstrezipienten) wie auch der Autoren (so wie es in Deutschland später Hans Magnus Enzensberger tun wird).

Im Bereich der Literatur- und Kunstkritik favorisiert Sontag einen mimetisch-deskriptiven Zugang gegenüber der theoretischen Analyse; der Literaturkritiker soll zeigen "wie ein Kunstwerk ist, was es ist; auch daß es ist, was es ist; aber nicht, was es bedeutet." (S.##) Er soll vor allem die Form des Kunstwerks betonen, um es der sinnlichen Wahrnehmung in differenzierterer Weise zugänglich zu machen. Dies ist besonders bei älteren Texten nötig, deren ästhetische Kategorien heute nicht mehr unmittelbar erfahrbar sind. Zweck und (dienende) Funktion einer solchen Kunst- und Literaturkritik, die man in heutigter Terminologie vielleicht als historische Formsemantik bezeichnen könnte, ist also die Optimierung, Differenzierung und Vertiefung der individuellen Lektüre oder Kunstbetrachtung.

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur