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Johann Wolfgang Goethe: Faust Der Tragödie Erster Teil. (1806). Der Tragödie Zweiter Teil (1831)

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Goethes größtes, zumindest umfänglichstes Drama (insgesamt 12111 Verse) war ein sein ganzes schriftstellerisches Leben begleitendes Projekt. Die erste, Fragment gebliebene Fassung gehört ins Frühwerk: 1773-1775 können die ersten Beschäftigungen mit dem Stoff nachgewiesen werden, aus denen der sogenannte "Urfaust" hervorging. Nach einer großen Pause führte eine intensive Arbeitsphase von 1797 an zum Abschluß des Ersten Teils der Tragödie (1806; gedruckt 1808) und zur Vorbereitung einiger Abschnitte des Zweiten. Erst in den letzten Jahren seines Leben (1827-31) stellt Goethe diesen Teil fertig.

Mit dem Faust greift Goethe auf einen Stoff mit einer langen literarischen Tradition zurück. 1587 erschien bei dem Frankfurter Buchdrucker Johann Spieß die Historia von D. Johann Fausten, eine protestantisch-konservative Antilegende über einen Schwarzkünstler und Teufelsbündler, der zwischen 1480 und 1540 v.a. in Mitteldeutschland sein Unwesen getrieben haben soll. Der ohnehin populäre Stoff wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts zusätzlich popularisiert durch seine Umarbeitung in ein Puppenspiel, das sich bis ins 18. Jahrhundert größter Beliebtheit erfreute - und in dessen Gestalt Goethe schon als Kind den Stoff kennenlernte.

Der Held von Historia und Puppenspiel war ein Wissenschaftler, der in anmaßendem Gottgleichheitsanspruch die (kirchlich reglementierten) Grenzen des bisherigen Wissen überschreiten wollte und zu diesem Zweck den Bund mit dem Teufel einging - auf Kosten seines Seelenheils. Dieser Anspruch auf eigene Göttlichkeit, auf titanisches Streben zeichnet die Faust-Figur in Goethes Urfaust aus, allerdings ins Positive gewendet: Diesem Menschen ging es um die übermenschliche Kenntnis der Weltformel. - Goethe untermischt dieser Wissenschaftler-Handlung allerdings einen zweiten, gleichwertigen Handlungsstrang: die Gretchenhandlung. Ein junges Mädchen, durch Faust mit Hilfe des teuflischen Abgesandten Mephistopheles verführt, tötet, nachdem schon die eigene Mutter und der Bruder im Kontext der Affäre zu Tode gekommen sind, das uneheliche Kind; von Gesellschaft und Kirche ausgeschlossen und der Justiz verurteilt, stirbt Gretchen, bevor der Henker sie tötet. Diese sogenannte 'Gretchentragödie', geschlossenster und wirkungsmächtigster Anteil von Goethes frühem Sturm-und-Drang-Faust, ist das wichtigste der sogenannten Kindmörderinnen-Dramen der Zeit; in dramatischer Literatur wird hier das Augenmerk erstmals auf die Not und Ausweglosigkeit junger Frauen vor dem Kindsmord gelenkt, Gesichtspunkte, die nur zögerlich Eingang fanden in Reformen des Strafrechts.

Während die Gretchenhandlung praktisch unverändert aus dem Urfaust in den Faust I von 1806/08 übernommen wird, ändert Goethe die Konzeption des Titelhelden entscheidend. Nicht mehr der titanische Grenzüberschreiter Faust steht mehr im Zentrum, das exponierte Individuum, sondern jener Einzelne, an dem Allgemeines sichtbar werden soll: Faust wird als Individuum zur Figuration der gesamten Gattung Mensch: "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem Innern Selbst genießen" (V. 1770f.). Diese Konzeptionsänderung läßt sich (auch in ihrer Beeinflussung durch Friedrich Schiller) in vielen Entstehungszeugnissen v.a. aus den Jahren 1797 bis 1800 belegen (Klassik).

Aus dem 'starken' Individuum Faust wird das Menschheitsparadigma: An der Faust-Figur soll das gesamte Menschliche, oder genauer: das Menschen-Mögliche sichtbar gemacht werden - in Selbstbestimmung: Fausts Anspruch auf das Menschen-Mögliche ist gleichzeitig Anspruch auf absolute Autonomie, die Bestimmung des Menschen durch sich selbst.

Diese Neukonzeption der Faust-Figur umschließt sowohl Wissenschaftler-Handlung und Gretchen-Tragödie (aus dem Urfaust) als auch den gesamten, sehr allegorisch-bildhaften oder auch rätselhaft-symbolischen Faust II. Menschen-Mögliches bzw. die (Selbst-)Bestimmung des Menschen wird insgesamt in unterschiedlichen, vielleicht in entscheidenden Bereichen bebildert: menschliche Erkenntnis und ihre Beschränktheit, sinnlicher Lebens- und Liebes-Genuß, Schuld und Tod, Teilhabe an politischer Macht, an Finanzbetrug, Intrige und schließlich Krieg (Kaiserhof, Faust II), Genuß antiker Schönheit (Helena, Faust II) und schließlich eigene Schöpfungs-Potenz: Faust trotzt dem Meere Land ab und sieht, selbst schon erblindet, in einer Vision eine neue Gesellschaft heraufziehen (Akt V., Faust II). - Tod und Rettung von Fausts Unsterblichem schließen das Drama ab, Mephisto bekommt die Seele nicht, er hat die Wette mit Faust nicht gewonnen.

Die Figur auf dem Weg durch die verschiedenen Felder des Menschen-Möglichen hinterläßt eine sichtbare Spur der Opfer: Gretchens Familie ist ausgelöscht, die Bankrotteure sind die (mitschuldigen, da geldgeilen) Opfer des Finanzbetrügers Faust/Mephisto, Helena und der gemeinsame Sohn entschwinden wieder, der Krieg fordert unzählige Menschenleben, schließlich läßt Faust das in glücklicher Liebe gealterte Ehepaar Philemon und Baucis ermorden, da sie seinem Blick auf die eigene Schöpfung im Weg sind. Damit wird der Faust zum Drama des menschlichen Autonomie-Anspruchs und gleichzeitig zur Tragödie von dessen Opfern.

© BJ

Sekundärliteratur

  • W. Binder: Goethes klassische ›Faust‹-Konzeption, in: Deutsche Vierteljahresschrift 42 (1968), S. 55-88.
  • K. Eibl: Das monumentale Ich - Wege zu Goethes 'Faust', München 2000.
  • P. Mattussek: Faust I, in: B. Witte u.a. (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. II. Dramatik, Stuttgart u.a. 1996, S. 352-390.