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Gottfried Benn

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* 02.05. 1886, Mansfeld
† 07.07. 1956, Berlin

Dichter (Lyrik, Prosa, Essays) und praktischer Arzt

"Ach, vergeblich das Reisen", - wenn solche Benn-Zitate auch der jüngeren Generation bisweilen noch über die Lippen kommen, dürfte dies wohl ein (ironisch gebrochener) Reflex der ungebrochenen Benn-Begeisterung ihrer Eltergeneration aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Und wie immer bei großen Dichtern (zu denen Gottfried Benn 'trotz allem' gehört) macht es Sinn zu fragen, welche Seiten von Biografie oder Werk auf dem Weg zum Ruhm vergessen, verschwiegen oder verloren wurden (werden mußten).

Denn es ist schon erstaunlich, dass dieser Nihilist und Bürgerschreck des Jahres 1911, der Sensationsautor des Frühexpressionismus (immerhin neben Georg Heym oder Georg Trakl), der sich in der Weimarer Republik als radikal-ungemütlicher Konservativer neu zu positionieren suchte und dann (wenn auch nur für kurze Zeit) mit der NSDAP sympathisierte, zum weithin akzeptierten und zitierten Klassiker der frühen Bundesrepublik, von den späten vierziger bis zu den frühen sechziger Jahren, werden konnte.

Tatsächlich hat Benn mit den Nationalsozialisten nicht nur sympathisiert, sondern sich rückhaltlos zu ihnen bekannt und Texte verfasst, über die humanistische Zeitgenossen je nach Temperament buchstäblich schäumten - oder weinten. Nach der unvermeidbaren Enttäuschung durch die Pöbelnazis verstand Benn sich als "Innerer Emigrant" und konservierte diese Haltung auch nach 1945 - und gerade damit, das heißt im Ausblenden oder "kommunikativen Beschweigen" (wie man später sagte) der eigenen Vergangenheit und Verstrickung paßte er prächtig in die Adenauer-Zeit hinein, die im Großen und Ganzen dasselbe tat. Unverwechselbar und unwandelbar war er wohl nur in der Zuneigung zu seiner Stadt Berlin und - "Würzburger Hofbräu zwei..." heute noch - ihren Kneipen.

Grundlage von Benns 'zweitem Ruhm' war der Lyrikband Statische Gedichte (1947) sowie die Rede Probleme der Lyrik (1951) die gern als eine horazische Ars poetica der Bundesrepublik bezeichnet wurde. Vor allem das einflussreiche Buch des Romanisten Hugo Friedrich zur Struktur der modernen Lyrik (seit 1956 in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet) kanonisierte Benns späte Modernität. Hinzu kam, daß man Benns Texte als Gegenentwürfe zu den Werken und zur Poetologie von Bertolt Brecht lesen konnte, mit dem er seit den zwanziger Jahren in gepflegter Feindschaft verbunden war; also: "Abendland" gegen "Bolschewismus", "Kunst" gegen "Politik".

Was zeigt der Blick zurück? Gemessen an der Experimentierfreudigkeit der (bis heute unterschätzten) Bennschen Prosa (die sogenannten "Rönne"-Geschichten, ab 1916, oder Roman des Phänotyp, 1947) verblassen die Gedichte der späten Phase. Und die frühexpressionistischen Großstadt-Gedichte der ersten Sammlung Morgue (1912), verfasst zu einer Zeit, als es möglich schien, der Lyrik und der Literatur überhaupt eine ganz neue Richtung zu geben, haben bis heute eine einmalige Schärfe bewahrt.

Im diffusen Licht der Postmoderne erscheint der Verfasser von "zwei Selbstdarstellungen" mit dem bezeichnenden Titel Doppelleben (1950) in einer angemessen doppelten oder auch paradoxen Rolle: als ein Wegbereiter der klassischen Moderne vor dem Ersten und als nachholender oder eher noch bremsender Spätmodernist nach dem Zweiten Weltkrieg.

© HR

Wichtige Schriften

  • Morgue und andere Gedichte (1912)
  • Gehirne (1915), auch bekannt als Rönne-Komplex
  • Statische Gedichte (1947)
  • Probleme der Lyrik (1951)
  • Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen (1950)

Sekundärliteratur

  • H. Brode: Benn-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1978.
  • H. Ridley: Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990.
  • H. Steinhagen (Hg.): Gedichte von Gottfried Benn - Interpretationen, Stuttgart 1997.