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Expressionismus

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Der deutsche Expressionismus läßt sich am besten nicht als präzise Stilbezeichnung, sondern als Epochenbegriff für den 'Aufbruch der Moderne' in den Jahren von 1910 bis 1924 verstehen. Der Name wurde im Gegensatz zum Impressionismus geprägt (ursprünglich in den bildenden Künsten, besonders in Zusammenhang mit der Malergruppe 'Der blaue Reiter'). Der Impressionismus förderte Empfindsamkeit für Nuancen und kleinste Impressionen, die von den Gegenständen ausstrahlen. Wenn Rilkes Romanfigur Malte Laurids Brigge darauf insistiert, sehen zu lernen, so ist der Abstand zu den Expressionisten deutlich. In den Worten von Kasimir Edschmid: Die Realität war für sie schon da, es wäre sinnlos, sie wiederholen zu wollen. Von den Expressionisten sagte er: "Sie schauten nicht, sie hatten Visionen". Der Transfer solcher Auffassungen und Haltungen aus der bildenden Kunst in die Literatur wurde 1912 vollzogen, als der Kritiker Kurt Pinthus in einer berühmten Rezension Walter Hasenclevers Stück Der Sohn mit den Methoden des malerischen Expressionismus gleichsetzte. Tatsächlich wollten die Expressionisten nicht nur auf Impressionen reagieren: sie wollten sich proaktiv selber zum Ausdruck bringen, sich aktiv erleben.

Entscheidend war die Generationszugehörigkeit. Die Expressionisten zählten - mit wenigen Ausnahmen - zu einer Generation, die erst um 1910 zu schreiben begann und die, - wenn es für sie überhaupt eine historische Heimat gab - durch den Ersten Weltkrieg geprägt wurde. Literaturgeschichtlich grenzten sie sich gegen die vorherige Literaturgeneration (Rilke, Hofmannsthal, Thomas Mann usw.) ab, andererseits definierten sie sich aus den Gegebenheiten moderner Existenz, wie etwa der Großstadt, die für die Impressionisten noch problematisch war. Das expressionistische Selbstgefühl war der Bruch mit der Vergangenheit, mit der Welt der Väter, und ein euphorischer Aufbruch in die moderne Zeit. Von daher ist es berechtigt, den deutschen Expressionismus mit der Moderne schlechthin zu identifizieren, als deutsche Form eines europäischen Modernismus, der sich in anderen Nationalkulturen, in anderen Spielarten und unter anderen Namen (Futurismus, Vortizismus, Surrealismus usw.) ausprägte.

Die literarischen Schwerpunkte des Expressionismus lagen in der Lyrik und im Drama. In der Lyrik gab es, wie die klassische Anthologie der Zeit - Kurt Pinthus' Menschheitsdämmerung (1918) - deutlich macht, keinen einheitlichen Stil. Einige Lyriker (wie Ivan Goll oder Gottfried Benn) pflegten einen aggressiv-modernen Stil, der brutal mit der Lyriktradition brach. Andere (am bekanntesten Franz Werfel) blieben innerhalb der Techniken und des Wortschatzes der herkömmlichen Lyrik. Im Höchstfall ließ sich (wie Pinthus in seinem Nachwort zur Anthologie meinte) die Intensität der Lyrik als gemeinsames Merkmal identifizieren.

Im Drama bedeutete der Expressionismus einen wichtigen Bruch mit dem Illusionstheater, wie es vom Naturalismus entwickelt worden war. Lag in den bevorzugten Themen (Leiden an der Gesellschaft, mißverstandene Jugend, der Künstler als Prophet) ein nicht immer modern anmutender Pathos, so wurden viele Stücke durch ihre Struktur, Dialogführung und spielerische Phantasie bahnbrechend für ein modernes Theater. Aus ihnen hat etwa der junge Bertolt Brecht - trotz prinzipieller Einwände - viele Ansätze gewonnen. Auch zeigte sich die expressionistische Bühne für wichtige Impulse des noch jungen Mediums Film offen; so wie andererseits gerade der 'expressionistische' deutsche Film neue ästhetische Maßstäbe setzte.

Die große Katastrophe der Expressionistengeneration war der Weltkrieg. Viele begrüßten euphorisch 'den' Krieg, ohne seine Realität zu erkennen - sehr berühmt: Georg Heym Der Krieg (1910), Ernst Stadler Der Aufbruch (1914). Mit der Zeit dominierte (nicht nur bei den Expressionisten) eher der Protest gegen die Unmenschlichkeit des Krieges - Ernst Toller: Die Wandlung (1917) -, aus dem sich für einige selbstverständlich die Teilnahme an der Revolution von 1918 bis 1919 ergab. Man kann in der jeweiligen Reaktion auf die Revolution eine Probe des ursprünglich eher unpolitischen Aufbegehrens erblicken. Daß dem Lebenslauf von Johannes R. Becher (expressionistischer Lyriker, später führender kommunistischer Intellektueller in der Weimarer Republik und schließlich Kulturminister der DDR) dabei kein Modellcharakter zukommt, sollte die Bedeutung dieser Phase deutscher Geistesgeschichte nicht abschwächen. Die Polarisierung der deutschen Intelligenz zwischen Faschismus und Kommunismus geht in vielen Fällen (von rechts: Hans Johst, Arnolt Bronnen) auf den politischen 'Ausklang' des Expressionismus in den Revolutionsjahren zurück. Während viele Stilimpulse entweder im Dadaismus, in der Neuen Sachlichkeit oder im 'reifen' Schaffen etablierter Schriftsteller aufgingen, bleibt ein unbequemer Rest an Ideologie und politischer Kritik, der zur problematischen Erbschaft der Weimarer Republik noch gehört.

©HR

Sekundärliteratur

  • R. Hamann / J. Hermand: Der Expressionismus. (=Epochen deutscher Kultur, Bd. 5).
  • Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Der Expressionismus, Stuttgart 1982.
  • K. Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung, Reinbeck bei Hamburg 1959.