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Strukturalismus

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Als interdisziplinäre Forschungsrichtung, die ihren produktiven Höhepunkt in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte, beruft sich der Strukturalismus vor allem auf die Einsichten und Methoden des Linguisten Ferdinand de Saussure zum Aufbau von Sprachen und anderen Bedeutungssystemen (zum Beispiel eines literarischen Werkes).

Im Mittelpunkt der strukturalistischen Literaturwissenschaft steht die einem Werk zugrundeliegende Struktur: Strukturen sind als regelhafte Zusammenhänge nicht sichtbar, sondern nur rekonstruierbar. Ziel einer Strukturanalyse ist es, sämtliche Einheiten eines Systems (einer Struktur) herauszuarbeiten und zu klassifizieren sowie die Regeln ihrer Kombination zu beschreiben. Struktur bezeichnet die Menge der Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems.

Der Rückgriff auf Saussures relationales Zeichenmodell und auf die von ihm als willkürlich gesetzt erkannte Verbindung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem erlaubt es, die Bedeutung eines Zeichens nicht aus dem Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit (aus der Referenz) heraus zu verstehen, sondern allein aus seiner Stellung im Beziehungsgefüge der Struktur. Strukturalisten betonen daher die synchrone Untersuchung einer Werkstruktur und weisen außersystemische Determinanten wie beispielsweise die Biographie des Autors oder sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte zurück. Gleichzeitig liefern sie ein analytisches Handwerkszeug, mit dem die Mechanismen literarischer Werke untersucht werden können und tragen so zur 'Entmystifizierung der Literatur' (S. 86) und zu einer intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretation bei.

Am Inhalt eines Textes ist die Strukturanalyse nicht interessiert: Hat man mit den Beziehungen zwischen den Einheiten das formale Organisationsprinzip des Werkes erkannt und die Regeln ihrer Zusammenstellung benannt, so lassen sich die Einheiten (genau wie in einem Satzbaumodell) austauschen. "Wenn die spezifischen Inhalte eines Textes austauschbar sind, kann man in einem bestimmten Sinne sagen, daß der 'Inhalt'[der Erzählung ihre] Struktur ist. Ihr 'Thema' sind ihre eigenen internen Beziehungen, ihre eigenen Formen der Sinngebung." (S. 74)

Eine Richtung innerhalb der strukturalistischen Literaturwissenschaft hat sich darauf konzentriert, die einen Text beherrschenden binären Oppositionen zu bestimmen, um das darin enthaltene Weltmodell zu rekonstruieren. Den wohl nachhaltigsten Einfluß hat die strukturale Methode aber – über den Umweg der Mythenforschung von Claude Lévi-Strauss – auf die Erzählforschung (Narratologie) ausgeübt . Sie ist darum bemüht, unter der Oberfläche des Erzählten bestimmte Tiefenstrukturen zu erarbeiten, die für viele oder alle Erzählungen überhaupt gelten. R. Barthes, A.J. Greimas (Strukturale Semantik, 1975) und G. Genette sind die produktivsten Vertreter dieser Richtung. So erhellend gerade die erzähltheoretischen Einsichten – beispielsweise von Genette – auch sind, dem Strukturalismus wird zurecht zweierlei vorgeworfen: Erstens werden in seiner Betrachtungsweise individuelle Phänomene häufig zu bloßen Beispielsätzen eines Regelwerks reduziert. Zweitens gilt der "Strukturalismus als haarsträubend ahistorisch" (S. 89), weil er die historisch bedingte Entwicklung der angeblich universellen Strukturmuster nicht berücksichtigt und den Aspekt von "Literatur als einer sozialen Praxis" (S. 92) völlig ignoriert.

© pflug

Quelle

  • T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1994.

Wichtige Schriften

  • R. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1987)
  • G. Genette: Die Erzählung (1994)
  • J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes (1975)

Sekundärliteratur

  • J. Culler: Structuralist Poetics, London 1975.
  • G. Schiwy: Der französische Strukturalismus, München 1973.