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Die historische Diskursanalyse beabsichtigt nicht, einen literarischen Text in seiner Ganzheit zu verstehen und zu interpretieren wie etwa die Hermeneutik. Der Diskursanalyse geht es vielmehr um Diskursformationen, die sich durch die unterschiedlichsten Texte hindurchziehen.

Zunächst gilt es, den Diskursbegriff des französischen Historikers und Philosophen Michel Foucault mit Inhalt zu füllen. Der Begründer der historischen Diskursanalyse hat jedoch kein konsequent strukturiertes Theoriegebäude hinterlassen. Sein Diskursbegriff ist vieldeutig und erhält in verschiedenen Kontexten einen anderen Sinn. Deswegen hat Foucault seine eigene Theorie als Steinbruch bezeichnet, aus dem sich andere Wissenschaftler einzelne Steine zu ihren Zwecken herausbrechen können. So ist dann auch die Literaturwissenschaft verfahren und hat den Diskurs als eine Summe von sprachlichen Aussagen zu einem bestimmten Thema begriffen, der das Wahrnehmen, Denken und Handeln von Individuen steuert. Folglich steht der Diskurs nicht neben der Gesellschaft, sondern trägt dazu bei, sie zu konstituieren. Die Möglichkeiten des Diskurses - also des Sagbaren - werden immer von sogenannten Ausschließungsmechanismen wie Verboten, Grenzziehungen, Kommentaren, Methoden, Theorien, Ritualen und Doktrinen eingegrenzt. Als Beispiel für diese Eingrenzung nennt Foucault in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France am 2. Dezember 1970 die Mendelsche Vererbungslehre. In Die Ordnung des Diskurses heißt es: "Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertiggebracht haben, nicht zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, daß Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd war [...]. Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht "im Wahren" des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet." (S. 24) Was zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Thema gesagt und gedacht werden kann, ist also immer strikt begrenzt. Feste Regeln sorgen dafür, daß nur bestimmte Dinge ‚wahr' sind, daß die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn exakt fixiert ist, daß Sexualität eine genau definierte Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenleben hat. Die zugehörigen Diskursformation bilden diese Regeln und Grenzen ab und konstituieren sich gleichzeitig. Auffindbar sind sie in allen Texten und sonstigen sprachlichen Äußerungen, die dem entsprechenden Thema gewidmet sind.

Welche Rolle spielt die Literatur in diesem Denkgebäude? In Foucaults Werk gibt es drei Antworten auf diese Frage, von denen zwei erwähnt seien. In seinen Schriften aus den Sechziger Jahren firmiert die Literatur als Gegendiskurs. Hier ist das "Andere" möglich, denn die Literatur befindet sich außerhalb der üblichen Diskurszwänge, sie kann die dort festgelegten Grenzen überschreiten. Die Literatur stellt also die Wirklichkeit und die Muster ihrer Wahrnehmung in Frage. Sie verleiht dem Leser die Möglichkeit, über das Alltägliche hinauszublicken und besitzt damit subversive Kräfte. Später schätzt Foucault die Möglichkeiten der Literatur geringer ein. Auch sie wird Bestandteil der herrschenden Diskurse, bildet sie ab oder ist an ihrer Erzeugung beteiligt. Literatur wird durch poetologische Doktrinen und politische, ökonomische, juristische, medizinische Diskurse strukturiert.

In der internationalen und deutschen Literaturwissenschaft haben seit etwa 1970 verschiedene theoretische Richtungen diskursanalytische Überlegungen einbezogen. So entstanden viele Bindestrich-Wörter: Friedrich A. Kittlers Ansatz wird als historisch-psychoanalytisch oder wahlweise als diskursanalytisch-medientheoretisch bezeichnet; es gibt historisch-philologische, marxistische, semiotische (Jürgen Link) und feministische Diskursanalysen.

Die Stellung der Diskursanalyse im Fach Literaturwissenschaft ist nicht unumstritten. Dies hängt nicht zuletzt mit der Fachgeschichte zusammen, die den hermeneutischen Verfahren, welche den einzelnen literarischen Text, seine spezifische Aussage und den jeweiligen Autor in den Mittelpunkt stellen, in den letzten Jahrzehnten eine bedeutende Rolle eingeräumt hat. Eine solche subjektzentrierte Herangehensweise wird nur schwer akzeptieren, daß es nun um Diskurse jenseits der Grenzen eines einzelnen Textes geht und daß sich auch die Kategorie des individuellen Autors aufzulösen beginnt. Trotzdem versuchen einige Hermeneutiker, die Diskursanalyse zu integrieren, indem sie z.B. ihr eigenes Tun als Verknappung des Diskurses beschreiben. Sie sehen ihre Interpretationen und Kommentare von literarischen Texten als Begrenzungen des im Text Lesbaren. In diesem Moment werden sie zu Diskursanalytikern, die sich selbst als Teilnehmer an einer diskursiven Praxis (Hermeneutik) beobachten und analysieren. Dadurch werden natürlich nicht ihre Literaturinterpretationen diskursanalytisch, sondern nur ihr Tun diskursanalytisch reflektiert. Eine hermeneutische Diskursanalyse, die mehr als Etikettenschwindel ist, kann es nicht geben.

©rein

Quelle

Sekundärliteratur