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Zeitgleich zu seinem großen Bildungsroman Der grüne Heinrich hat Gottfried Keller nach eigenem Bekunden ein Bändchen Novellen [...] ganz spielend niedergeschrieben (1856). Sein variationsreiches Spiel mit den verschiedensten Erzählformen und pittoresken Figuren basiert jedoch auf einer stringenten Struktur: jener inneren Nothwendigkeit, die das Schicksal seiner Leute von Seldwyla bestimmt und die novellistische Handlung durchdringt. Diese innere Notwendigkeit kann ein materielles und ein psychologisches Gepräge haben, also eine Lebensgeschichte aus wirtschaftlichen und aus seelischen Motiven begründen. Erstere zeugen von der neuen Rolle der Ökonomie, die Keller nach der Auflösung der Zunftschranken und der Ausbreitung des freien Markts im Leben seiner Zeitgenossen wahrnahm; mit seiner seelenkundigen Erzählweise hingegen überschreitet er das zeitgeschichtliche Wissen vom Menschen und nimmt Einsichten der modernen Psychologie vorweg. Die nuanciert begründete Entwicklung seiner Figuren und der Handlung verlieh der bislang geringgeschätzten Novelle eine neue ästhetische Qualität und nobilitierte sie zur "Schwester des Dramas" (Theodor Storm).

Kellers berühmteste Erzählung Romeo und Julia auf dem Dorfe handelt von zwei Liebenden, den Kindern ehemals begüterter und geachteter Bauern, die aus privatwirtschaftlichen Interessen ihre friedliche Nachbarschaft ruiniert und sich wechselseitig an den Bettelstab gebracht haben. Ihren Kindern ist die einstige Nachbarsidylle auf dem reichen "Grund und Boden" als Erfahrung lebendig geblieben. Sie wachsen zu Jugendlichen heran, die in ihrer erwachenden Liebe sich wechselseitig in Besitz nehmen und so das ökonomische Besitztum von einst verinnerlichen, also die vergangene Glückserfahrung mitten im materiellen Elend wiederherstellen. So unbeirrt verfolgt Keller die Tiefenwirkung kindlicher Erlebnisse bis ins Erwachsenenalter, die Prägekraft ökonomischer Lebensbedingungen bis in die Seelensprache! Für das unveräußerliche 'Eigentum' der Liebe nehmen die beiden jungen Menschen am Ende selbst den Tod in Kauf.

Den streng motivierten Schicksalsweg bis in den Tod verwandelt Keller in anderen Erzählungen in ein glückliches oder versöhnliches Ende. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die Individuen sich ihren prägenden Kindheitserfahrungen bewußt stellen und sich dadurch von ihnen befreien (Kleider machen Leute, Dietegen) oder daß sie in tiefster Selbstentfremdung gerade noch rechtzeitig zu ihrem besseren Ich finden (Pankraz, der Schmoller, Das verlorene Lachen). Die beinah tödliche Selbstgefährdung der Menschen ist bei Keller eine Bedingung für ihre Selbsterhellung und Selbstheilung - das verleiht seinen Erzählungen ihre innere Polarität und ihren dramatischen Spannungsbogen. Erst mit ihrer Selbstfindung werden die Figuren reif für eine neue Bindung an die Gesellschaft, in deren Dienst sie treten. Für den versöhnlichen Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft bürgt der vielbeschworene Humor Kellers, der die Gegensätze und extremen Spannungen in soziale Lebensoffenheit umwandelt. Wo dieser Ausgleich nicht zustande kommt, treten andere Erzählstile in den Vordergrund: unpathetische Anteilnahme in Romeo und Julia; Posse, Parodie und moralischer Ernst in den Mißbrauchten Liebesbriefen oder im Schmied seines Glückes; Satire, Groteske und Tragikomödie in den Drei gerechten Kammachern. Gerade die Ko-Existenz und das Ineinanderspiel so verschiedenartiger Stile erzeugen die unvergleichliche Spannweite und den Nuancenreichtum von Kellers Novellistik.

Ebenso bedeutsam sind die kunstvollen Interventionen des Erzählers: seine schwerelos erzeugten Kontraste und Perspektivwechsel, beispielsweise der unauffällige Wechsel von verblendeter Figuren-Optik zur illusionslosen Erzählersicht oder die unbewußte Selbstenthüllung der Figuren durch diskrete Erzähler-Lenkung. Im Bunde mit der Kunst der Situationskomik und einem blühenden Einfallsreichtum macht Kellers Erzählerfigur die Lektüre der Leute von Seldwyla zum subtilen Stilvergnügen.

© GS

Quelle

  • Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Mit einem Nachwort und bibliographischen Hinweisen von Gert Sautermeister. München 1972 u.ö.