Startseite Inhalt

Empfindsamkeit

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

1740-1780

Die deutsche Empfindsamkeit ist eine literarische Strömung der Aufklärung. In ihr stellt sich der moralisch selbstgewisse Bürger, der seine ethischen Grundsätze einem natürlichen Menschsein und damit einer natürlichen Vernunft verdankt, gegen die materielle und ideelle Vorherrschaft von Adel und Klerus. Die Moral des Bürgers gründet sich weder auf religiöse Dogmen noch andere gesellschaftliche Vorgaben, sie ist vielmehr das Ergebnis vernünftigen Nachdenkens eines mit gesundem Menschenverstand ausgestatteten Individuums. Dieser ist dem Adel aber nicht nur moralisch, sondern auch durch die Stärke seiner Empfindung überlegen. Die empfindsamen Prosaisten, Lyriker und Dramatiker sowie ihre Rezipienten erleben einen Gefühlsüberschwang, sind gerührt, in Tränen aufgelöst, ja sie erfahren die Welt mit ganzem Herzen. Zum Gefühlsauslöser kann alles werden, vom Natur- bis zum Kunsterlebnis, von der Darstellung eines gerechten Familienvaters, dessen Familie durch die Willkür eines Fürsten zerstört wird (Lessings Emilia Galotti, 1772), bis zum Selbstmörder, dessen Liebe unerfüllt bleibt, weil sie nicht in eine Ehe münden kann (Goethes Werther, 1774). Auch wenn es äußere Anlässe sind, welche die Rührung auslösen, so sind die inneren Erlebnisse der Protagonisten und der Zuschauer doch das Eigentliche. Das innere Leben des einzelnen Bürgers, seine komplexe Erfahrungsfähigkeit machen ihn zu einem aus sich selbst heraus konstruierten Individuum, mit eigenen Werten, Gefühlen und Wahrnehmungen.

Entstanden ist die Empfindsamkeit unter dem Einfluß von moralischen Wochenschriften, die ursprünglich in England ihre erste Verbreitung fanden. Die populären Journale erfreuten sich im Deutschland des 18. Jahrhunderts einer großen Beliebtheit. Selbst relativ ungebildete Schichten wurden von ihnen erreicht. Meist wurden in diesen belehrenden und unterhaltenden Zeitschriften Alltagssituationen in literarisierter Form dargestellt, um Fallbeispiele für den Leser zu liefern. Wichtige Impulse gab auch die pietistische Bewegung, deren Wurzeln schon im ausgehenden 17. Jahrhunderts lagen; diese Bewegung gründete das Glaubenserlebnis auf eine direkte, bis zur Ekstase verstärkte individuelle Beziehung zu Gott. Direkte literarische Vorbilder waren die Tugend- und Familienromane Englands (Richardsons Pamela, 1740, und Clarissa Harlowe, 1749) und der Einfluß Laurence Sternes mit seiner Sentimental Journey (1768). Die Übersetzung des Begriffs "sentimental" durch "empfindsam" (1768 durch Lessing) brachte den Begriff zum ersten Mal in die literarische Diskussion.

Als wichtigster Vertreter der lyrischen Empfindsamkeit gilt Friedrich Gottlieb Klopstock, der in seinem Messias (1748-1773) vor allem durch die Darstellung des Seelenzustands seiner Gestalten beeindruckt. Im Drama finden wir die bürgerlichen Tugendideale vor allem im "weinerlichen" Lustspiel bei Christian Fürchtegott Gellert (Die zärtlichen Schwestern, 1747) und in Lessings bürgerlichen Trauerspielen (u.a. Miß Sara Sampson, 1755) verwirklicht. Der empfindsame Roman zeigt sich in ersten Ansätzen in der Robinsonade Die Insel Felsenburg (1731-1742) von Johann Gottfried Schnabel. Die Insel wird für die Schiffbrüchigen zum "Asyl der Redlichen", wo ohne feudale und klerikale Herrschaftsstrukturen ein Zusammenleben auf die Vernunft gegründet werden kann. In Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** setzt sich dann das Verdienstprinzip als natürlicher Adel des Bürgers gegen den ererbten Adel des Feudalismus durch. Hervorzuheben ist auch Sophie von Laroches Roman Geschichte des Fräulein von Sternheim (1771), in dem die Heldin ihr Glück nur durch das Beharren auf bürgerlichen Tugenden findet, nachdem sie von den Intrigen und Ränkespielen des Hofes schon fast ins Unglück gestoßen worden war.

© rein

Sekundärliteratur

  • E. von Borrie/E. von Bories: Deutsche Literaturgeschichte Bd.2. Aufklärung und Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 3. Aufl., München 1996.
  • G. Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 5. Aufl., Tübingen 1996.
  • N. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988.