Ideologiekritik

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Der Begriff "Ideologie" ist eine auf gr. idea, Erscheinung, und logos, Wort, zurückgreifende Neuprägung, die um 1800 in Frankreich entstand. Ursprünglich als neutrale Bezeichnung einer Wissenschaftsdisziplin gemeint, hat er in der Verwendung durch Karl Marx/Friedrich Engels (um 1848) bereits eine eindeutig negative Bedeutung. In ihren sogenannten Frühschriften, insbesondere der Deutschen Ideologie (1845/6), entwickeln sie ein Konzept von Ideologie als 'falschen', das heißt der (ökonomischen) Realität nicht entsprechenden Bewußtseinsformen, welche die Individuen über sich und ihre Lebensverhältnisse täuschen (diese verschleiern), ihre politische Kraft lähmen und damit faktisch die Macht der jeweils herrschenden Klasse stützen. Diesen Zusammenhang zu durchschauen, anzuprangern (und damit auch schon politisch zu bekämpfen) heißt im Sinne von Marx und Engels dann Ideologiekritik betreiben.

Ein griffiges Beispiel: Der Konzernherr (Kapitalist) Krupp versteht es vor und nach 1900, den von ihm abhängigen (ausgebeuteten) Industriearbeitern (Proletariern) durch betriebliche Maßnahmen und eine entsprechende 'Öffentlichkeitsarbeit' das Gefühl zu vermitteln, Mitglieder einer großen Familie ('Kruppianer') zu sein - was (nach marxistischen Kriterien) am Tatbestand der Ausbeutung nichts ändert, aber den politischen Konflikt (Klassenkampf) verhindert. Ein Roman, in dem diese Familien-Ideologie in kritischer Perspektive (z.B. mit satirischen Techniken) aufgezeigt wird, wie etwa Union der festen Hand von Erik Reger (1931), darf dann 'ideologiekritisch' heißen.

Das Konzept der Ideologiekritik wird im 20. Jh. von zahlreichen westeuropäischen Neomarxisten aufgenommen; so von Georg Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923) und von den Begründern der sogenannten Frankfurter Schule, Max Horkheimer und Thedor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung, 1945). Auf diesem Wege wird Ideologiekritik - besonders durch den 'Frankfurter Schüler' Jürgen Habermas um 1968 auch in die Hermeneutik-Debatte eingeführt und als kritisches Korrektiv gegen das affirmative Verstehenskonzept von Hans-Georg Gadamer gewendet. Durch Habermas und ganz allgemein durch die nachholende Marxismus-Rezeption um 1968 wird Ideologiekritik dann auch in der germanistischen Literaturwissenschaft, die nach der Selbstauflösung der werkimmanenten Interpretation neue (politische) Orientierung sucht, zu einem attraktiven neuen Paradigma.

Dominierend ist dabei die Intention, die ideologische Funktion oder Qualität von Literatur kritisch aufzudecken. Das ist besonders im Falle von Massenliteratur/Trivialliteratur mit ihrer leicht erkennbaren ideologischen Qualität naheliegend. Daß auch 'große' Werke aus Vergangenheit und Gegenwart - Texte des Kanons - in gewissem Maße 'Ideologie' (oder spezielle Ideologien, wie z.B. den Antisemitismus) transportieren, ist kaum zu bestreiten. Doch wäre es unzureichend, Literatur bzw. bestimmte Texte einfach nur ideologiekritisch abzuqualifizieren; schon deshalb, weil die wenigsten Werke ideologisch homogen sind. Schon Marx hatte bemerkt, daß die Romane des politisch erzkonservativen Honoré de Balzac die Bewegungsgesetze des modernen Kapitalimus aufdeckten - also 'ideologisch' und 'ideologiekritisch' zugleich waren. Oder denken wir an Brecht: Er entwickelt praktisch und theoretisch seit den frühen zwanziger Jahren eine Strategie der Ideologiekritik (oder wie er lieber sagt: der "Ideologiezertrümmerung") gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, dem Kapitalismus und dem Faschismus, - und ist in bestimmten Texten doch nicht resistent gegen die stalinistische Ideologie.

Die ideologiekritische Perspektive auf literarische Werke kann also vernünftigerweise nur ein Element einer umfassenden Analyse sein, die der ideellen und formalen Komplexität jener Werke gerecht werden muß. Wichtig ist sicher auch, daß solche Ideologiekritik sich nicht in der pauschalen Abwertung von 'Meinungen', 'Weltbildern' usw. erschöpft, sondern textanalytisch konkret wird. Dabei können sich Verfahren der Textsemiotik und Diskursanalyse, etwa die genaue Untersuchung der Kollektivsymbolik eines Textes, als besonders produktiv erweisen.

© JV

Sekundärliteratur