Netzliteratur

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Mit dem Wandel von der speicherarmen Diskette zum multimedialen Web haben sich die Möglichkeiten von Hypertext und Hyperfiction drastisch erweitert. Gerade die visuellen und akustischen Mittel werden heute stärker genutzt, weshalb man mittlerweile auch gern von Hypermedia spricht. Dadurch treten die Textanteile zurück, Hyperfiction nähert sich der Ästhetik einer elektronischen Medienkunst an und nimmt Elemente von Computerspielen auf. Auch in Deutschland ist Mitte der 90er Jahre eine eigene Netzliteratur-Szene von ambitionierten, jungen Autoren entstanden. Entscheidend stimuliert wurde die Produktion von Hyperfiction durch die Wettbewerbe der Wochenzeitung DIE ZEIT (1996-99). Ausgezeichnet mit dem Pegasus-Preis wurde u.a. das Projekt Die Aaleskorte der Ölig (1998) der Essener Autoren Frank Klötgen und Dirk Günther. In ihrem Bilderdrama muss der Leser bzw. Zuschauer die Abfolge der 20 Szenen und die jeweiligen Besetzung der Hauptrolle wählen. Daraus ergibt sich eine unendliche Zahl an Variationen der Geschichte. Im Vorspann heißt es daher lapidar: "Regie und Drehbuch: zuschauergeneriert."

In noch höherem Maße wird die Einheit des Textes in so genannten Mitschreib-Projekten aufgebrochen. Leser und Leserinnen können einer Ausgangsgeschichte eigene Kapitel zufügen, einen bestimmten Erzählfaden aufnehmen oder auch eine Geschichte schreiben, die nur über einen Link auf den Ursprungstext Bezug nimmt. Verständlicherweise ist bei dieser Form des interaktiven und kollektiven Schreibens nicht unbedingt eine gleichbleibende Qualität gesichert.

Unschwer ist zu erkennen, dass die delinearen, interaktiven und multimedialen Aspekte des Hypertextes und der Hyperfiction mit bestimmten modernen literaturtheoretischen Positionen korrespondieren. Sowohl Vertreter der Rezeptionsästhetik als auch der der sogenannten Dekonstruktion haben immer wieder betont, dass die Vorstellung eines abgeschlossenen und mit Bedeutung aufgeladenen Werkes irrig sei. Vielmehr sei es die Leser, die Leerstellen des Textes mit seiner Imagination und Lektüreerfahrung fülle. Die digitale Hyperfiction wird von manchen Literaturtheoretikern als Einlösungsform einer postmodernen Literaturkonzeption verstanden.

Jedoch kann auch der so genannte "wreader" (writer und reader) nur diejenigen Entscheidungen bei der Lektüre treffen, die der Autor zugelassen hat; damit relativiert sich die Rede von der Emanzipation des Lesers. Bislang ist der Kreis von Hyperfiction-Lesern zudem sehr beschränkt auf eine kleine Szene von ambitionierten Theoretikern und Schriftstellern. Daher ist es sehr fraglich, ob die in den 90er Jahren noch formulierten Träume eines neuen literarischen Zeitalters, in dem Autor und Leser nicht mehr als separate Größen zu fassen sind, sich überhaupt realisieren lassen.

© DF

Quelle

Sekundärliteratur