Kommentar

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In Presse und Publizistik ist der 'Kommentar' eine subjektiv bewertende und meinungsbildende Äußerung (eine 'Randbemerkung') zum aktuellen Geschehen. - Ganz im Gegensatz dazu dient die Form des Kommentars in den Literatur- und Kulturwissenschaften der sachlich-objektiven Erläuterung von sprachlichen und sachlichen Einzelheiten, die zum Verständnis des Textes notwendig erscheinen. Formal erscheint er in den hauptsächlichen Varianten des Interlinear-Kommentars, der Randglosse und des Textanhangs.

Bedarf nach Kommentierung entsteht vor allem bei Texten, die von Bedeutung für die kulturelle Identität einer Gemeinschaft (Nation, Religion usw.) sind; dringend wird die Kommentierung vor allem dann, wenn das Verständnis und der kulturelle Status solcher Texte über große Zeiträume, Kulturbrüche oder auch über Sprachgrenzen hinweg gesichert werden soll; im letzten Fall kann der Kommentar als Hilfsmittel oder Vorstufe der Übersetzung dienen. In jedem Fall trägt die Kommentierung relevanter Texte wesentlich zur Bildung eines Kanons bei.

Die wichtigsten Beispiele dafür bieten im abendländisch-christlichen Kulturkreis die Epen Homers, die philosophischen Werke des Aristoteles und die Bibel (als Grundtext der theologischen Hermeneutik), die sämtlich eigene Kommentierungs-Traditionen ausgebildet haben Erwähnenswert ist weiterhin, im Rahmen der juristischen Hermeneutik, die bis heute wichtige Gebrauchform des 'Kommentars', der Gesetzestexte erläutert und anhand von Fallbeispielen mögliche Applikationen vorstellt.

Der philologische Kommentar war Jahrtausende hindurch die dominierende Arbeitsform der philologischen Bemühung um einen bestimmten Text; erst die neuere Philologie wendet sich verstärkt der Form der Interpretation zu. Aber auch in der heutigen Literaturwissenschaft sind Kommentare unverzichtbare Arbeitsmittel, etwa in Gestalt von Studienausgaben. Als weit verbreitetes Beispiel kann die sogenannte Hamburger Goethe-Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, betrachtet werden. Jeder Band enthält einen Anhang, der Entstehungsgeschichte und Überlieferung der Texte darstellt, ausführliche Wort- und Sacherklärungen liefert (dies ist der eigentliche Kern des Kommentars), sowie in zusammenfassenden Abschnitten die ästhetische Qualität einzelner Texte diskutiert - damit aber bereits die Grenze zur Interpretation überschreitet. Im 1. Band dieser Ausgabe (Gedichte und Epen) kommen auf 410 Seiten Text immerhin 320 Seiten - also ein recht ausführlicher - Kommentar.

Das Misstrauen gegen die - oft als willkürlich und autoritär bewertete - Form und Praxis der Interpretation hat in der neueren Literaturwissenschaft eine (Wieder-)Aufwertung des Kommentars bewirkt, die sich u.a. auf entsprechende Hinweise von Walter Benjamin stützt. Er unterscheidet zwischen dem Kommentar, dem es um den Sachgehalt - und der Kritik oder Interpretation, der es um den Wahrheitsgehalt eines Werkes gehe; und er betont, dass der Kommentar von der "Klassizität seines Textes und damit gleichsam von einem Vorurteil ausgehe" (S.539).

Benjamins eigene Praxis, etwa in seinen Brecht-Kommentaren (entstanden 1938/39) oder in der kommentierten Briefanthologie Deutsche Menschen (1936), zeigt aber, daß er selbst jene Grenze subversiv unterläuft und die Form eines ästhetischen Kommentars entwickelt. Dieser bleibt nicht mehr 'dienend' wie der philologische, sondern entwirft eine sehr entschiedenen, bisweilen parteiliche Perspektive der Deutung. Von der Interpretation unterscheidet ihn aber, daß er diese Parteilichkeit explizit offenlegt und damit diskutierbar macht. - Die grundsätzliche Ablehnung der Interpretation als Form (wegen ihres Anspruchs auf 'Ganzheitlichkeit' und 'Sinnstiftung') hat schließlich in der neuesten Literaturwissenschaft, insbesondere im Umkreis des Dekonstruktivismus, zu einer Neubelebung und Neuakzentuierung kommentierender Formen geführt.

© JV

Quelle

Sekundärliteratur