Startseite Inhalt

Nibelungenlied

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Das Nibelungenlied ist das früheste schriftlich überlieferte deutsche 'Heldenepos' (vom Hildebrandslied aus althochdeutscher Zeit ist nur der Anfang erhalten). Von der sog. 'höfischen Epik' unterscheidet sich die Heldenepik durch strophische Gliederung, anonyme Autorschaft und mündlichen Ursprung sowie den "einheimischen" Stoff. Der Nibelungenstoff stammt aus der Völkerwanderungszeit und wurde zwischen 1180 und 1210 verschriftlicht. Wir kennen 11 annähernd vollständige Handschriften und über 20 Fragmente aus dem 13. - 16. Jh., was auf große Beliebtheit hindeutet.

Gegliedert sind die über 2370 vierzeiligen Strophen (= mehr als 9480 Verse) des NL in zwei Teile mit zusammen 39 âventiuren (wörtlich: 'schicksalhaftes Ereignis'). Der erste Teil (âventiure 1-19) erzählt vom Schicksal des Königssohns Sîvrit (Siegfried) am Wormser Hof der Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher. Er vollbringt zahlreiche Heldentaten und verschafft Gunther die Königin Brünhilt von Island als Gemahlin, indem er sie im Schutze eines Tarnmantels an Gunthers Stelle in einem Dreikampf besiegt. Zum Lohn darf Sîvrit dann Kriemhilt, die Schwester der drei Könige, heiraten. Als Brünhilt sich dem echten Gunther in der Hochzeitsnacht verweigert und ihn an einen Nagel hängt, wird Siegfried samt Tarnmantel nochmals tätig; so dass nun auch Gunther mit Brünhilt schlafen kann. Da Sîvrit sich als Gunthers Vasall ausgegeben hatte, Brünhilt also nichts von seiner königlichen Abstammung weiß, kritisiert sie die Heirat mit Kriemhilt. Bei einem Besuch des Doms streiten die Damen darüber, wer das Gotteshaus zuerst betreten darf. Kriemhilt, der Sîvrit die Ereignisse im königlichen Brautgemach fahrlässigerweise erzählt hat, konfrontiert Brünhilt mit dem Vorwurf, sie habe Sîvrit mit sich schlafen lassen. Als scheinbaren Beweis kann sie Brünhilts Ring und Gürtel präsentieren, die Sîvrit in der Nacht an sich genommen hatte. Da das Ansehen Brünhilts und König Gunthers ernsthaft bedroht ist, wird auf Rat des erfahrenen Hagen, der zentralen politischen Figur am Hofe, Sîvrits Tod beschlossen. Hagen stößt seinen Speer durch die einzige Stelle, an der Sîvrit nach einem Bad in Drachenblut noch verwundbar ist.

Der zweite Teil des Epos berichtet von Kriemhilts Rache an Hagen und Gunther. Sie heiratet den Hunnenkönig Etzel (Attila) und lädt ihre burgundischen Verwandten zu sich ein. Gegen den Rat Hagens leistet man der Einladung Folge. Kurz nach der Ankunft werden die Burgunden in Gefechte mit den Hunnen verwickelt, die durch Provokation und Gegenprovokatione eskalieren. Etzels Schlichtungsversuche sind vergeblich; nach einer gewaltigen Schlacht bleiben auf burgundischer Seite nur Hagen und Gunther übrig. Gefesselt bringt Dietrich von Bern sie vor Kriemhilt. Sie will von Hagen wissen, wo der Nibelungenhort (Kriemhilts Mitgift) versteckt sei. Hagen hatte ihr den Schatz nach dem Tod ihres Mannes geraubt und im Rhein versenkt, um ihr die finanziellen Ressourcen für einen Racheakt zu nehmen. Nun provoziert er erst Gunthers und dann seine eigene Tötung durch Kriemhilt, um das Geheimnis des Verstecks mit ins Grab zu nehmen. Etzel beklagt, dass 'zwei so tapfere Helden von Frauenhand gestorben sind'; der alte Hildebrand, Dietrichs Waffenmeister, schlägt Kriemhild mit dem Schwert ze stücken. - Der Text schließt mit dem Vers: daz ist der Nibelunge nôt, worin man ein kurzes Resümee, vielleicht aber auch eine Art Titelangabe sehen kann.

Als Not oder Nibelungennot wurde das Epos denn auch zeitweise abgegrenzt von einer bald nach ihm entstandenen Fortsetzung, der paargereimten Nibelungenklage oder Klage. Diese berichtet von den entsetzten Reaktionen überall dort, wo Boten die Nachricht vom Untergang der Burgunden verbreiten. Daneben wird von den 'Aufräumarbeiten' nach der Schlacht erzählt und bemerkenswert rational über eine mögliche Vermeidung der tragischen Vorfälle räsoniert: Bei besserer Informationspolitik hätte Etzel die Vorgänge an seinem Hof kontrollieren und Kriemhilt an ihrer Rache hindern können. In den vollständigen Handschriften ist die Klage stets mit überliefert, so dass die Rezipienten nach der Not mit einem direkten Anreiz zur Reflexion konfrontiert wurden.

In der Neuzeit erfuhr das Werk nach Wiederentdeckung des Textes um 1755 und der ersten vollständigen Ausgabe von 1787 eine Stilisierung zur 'deutschen Ilias', vor allem aber im 19. zum deutschen 'Nationalepos' (analog der Rolle des Rolandsliedes für Frankreichs). In ideologisch aufgeheizten Zeiten, etwa in den Befreiungskriegen, im Ersten und Zweiten Weltkrieg, konnte es um den Preis einer Fehldeutung des historischen Kontextes umfunktionalisiert werden zum Beispiel heldenhafter Treue und Selbstaufopferung. Die breite literarische und künstlerische Rezeption hat dies nicht immer, aber gelegentlich unterstützt. Aus der Fülle der Neugestaltungen sind die Dramatisierung durch Friedrich Hebbel (3 Teile, 1862), die musikdramatische Fassung Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner (4 Teile, 1863) und die Verfilmung durch Fritz Lang (2 Teile, 1922/24) herauszuheben.

©RB

Quelle

  • Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg. u. übers. v. Helmut Brackert, 2 Bde. Frankfurt/M.1970