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Das sprachliche Kunstwerk

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Der deutsche Germanist Wolfgang Kayser, der sich 1936 an der Berliner Universität habilitiert hatte, verfasste dieses Werk während seiner Zeit als Dozent an der Universität Lissabon (1941-1946) und brachte es mit Hilfe eines portugiesischen Forschungsstipendiums zum Abschluss. Es erschien 1948 gleichzeitig in deutscher und portugiesischer Sprache, wurde als literaturwissenschaftliches Lehrbuch an portugiesischen Universitäten benutzt und war in der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahren DAS Studienbuch, ironisch gesagt: "die blaue Bibel" aller Studierenden der Germanistik. - Im Jahr 1992 erschien, bei inzwischen fast unüberschaubarer Konkurrenz, die 20. Auflage!

Neben - oder besser: noch vor den literarästhetischen Abhandlungen von Emil Staiger (u.a. Grundbegriffe der Poetik, 1946, Die Kunst der Interpretation, 1955) sowie den zahl- und umfangreichen Interpretationsbänden von Benno von Wiese prägte Das sprachliche Kunstwerk die methodische Ausrichtung und das analytische Handwerk der germanistischen Literaturwissenschaft in der frühen Bundesrepublik. Die Methodenbezeichnung (oder das Schlagwort) "Werkimmanente Interpretation", die Kayser selbst nicht benutzte, wird von diesem Werk am klarsten ausgefüllt.

Diese enorme Wirkung hat einerseits historisch nachvollziehbare Gründe: Kaysers programmatische Begrenzung auf die Kategorien "Sprache" (als Material), "Werk" (als Gestalt oder "Gefüge") und "Kunst" (als ästhetisches Qualitätskriterium) sowie seine Ausgrenzung aller äußeren Faktoren und Bedingungen, insbesondere der historischen, erwies sich attraktiv für Dozenten und Studenten, die den politischen Missbrauch von Kunst und Wissenschaft durch die Nazis zum Teil noch selbst erfahren hatte. Die werkimmanente Interpretation Kaysers erschien als Weg, der Literatur ihre Autonomie und kulturelle Wertigkeit (und dem eigenen Tun die politische Unschuld) zurückzugewinnen. Zugleich konnte Wolfgang Kaysers vergleichsweise "sachlicher" Zugriff (auch im Kontrast zu Staiger) als allmähliche Hinführung zu strukturanalytischen Verfahren dienen, die seit Ende der fünfziger Jahre (z.B. im Bereich der Erzähltheorie von Käte Hamburger, Eberhard Lämmert u.a.) entwickelt wurden.

Andererseits besitzt Das sprachliche Kunstwerk auch überdurchschnittliche konzeptionelle und sprachliche Qualitäten. Sein Erfolg verdankt sich auch dem Doppelcharakter als theoretisch anspruchsvolle Neubegründung des Faches UND als Lehrbuch, das bereits für Studienanfänger verständlich ist. Der Buchtyp der Einführung wird hier, wie der Untertitel anzeigt, erfolgreich im Fach etabliert. Kayser gibt seinem Werk eine klare, systematisierende Gliederung, die sich an Kategorien der antiken Poetik und Rhetorik orientiert und sucht sie, besonders im Bereich der Stilistik, weiter zu entwickeln. Er will vom Einfachen zum Komplexen, von der "Analyse" zur "Synthese" führen, also z.B. von den "Grundbegriffen des Inhalts" zu den "Formen der Darbietung" und weiter zum "Gefüge der Gattung". Kayser schreibt ein klares und gepflegtes, aber unprätentiöses Deutsch. Er entlastet seine Ausführungen von überflüssigem Ballast (so gibt es z.B. keine Fußnoten). Er illustriert seine Systematik mit Textbeispielen aus verschiedenen Epochen und Nationalliteraturen, wodurch das Buch komparatistischen Charakter annimmt. Die exemplarisch eingestreuten Textanalysen nehmen teilweise die Form eigenständiger Interpretationen an, die auch dann noch anregend zu lesen sind, wenn man ihrer Argumentation nicht mehr folgen kann. Ein Beispiel ist die Analyse von Hugo von Hofmannsthals Gedicht Manche freilich... in Kapitel IX  (S.311 ff.).

Alles in allem ist Das sprachliche Kunstwerk ein wichtiger Markstein in der Methoden-Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft, auch wenn es viele Aspekte des Literaturprozesses ausblendet, die heute im Mittelpunkt unseres Interesses stehen.

© JZ

Quelle

  • Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948 (20. Aufl.: Bern u.a. 1992).