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Schleiermacher hat seine Überlegungen zur Hermeneutik zwischen 1810 und 1830 regelmäßig in (theologischen) Vorlesungen vorgetragen, aber offensichtlich nie eine Publikation geplant. Für die Nachlaßedition von Hermeneutik und Kritik zeichnet sein Schüler Friedrich Lücke verantwortlich. Die Einleitung umreißt Schleiermachers wichtigste Ideen zur Hermeneutik in thesenhaft zugespitzter Form:

"Einleitung

1. Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken. [...]

2. Es ist schwer, der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen. [...]

3. Da Kunst zu reden und zu verstehen (korrespondierend) einander gegenüberstehen, Reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken und also philosophisch. [...]

4. Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens [...].

1. Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende nötig findet, den Gedanken sich selbst zu fixieren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des urspünglichen, und wird hernach auch Auslegung nötig.

2. Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.

[5.] 1. Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dies zwar auch umkehren, nicht nur für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mitteilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache, also eine gewisse Kenntnis derselben voraus. Wenn zwischen die unmittelbare Rede und die Mitteilung etwas tritt, also die Kunst der Rede anfängt: so beruht dies teils auf der Besorgnis, es möchte dem Hörenden etwas in unserm Sprachgebrauch fremd sein.

2. Jede Rede beruht auf einem früheren Denken. Man kann dieses auch umkehren, aber in bezug auf die Mitteilung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur bei fortgeschrittenem Denken an. 3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Tatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen. [...]

[3.] Ebenso ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehört, d.h., da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist, und dies nur aus der Gesamtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter.

6. Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen). [...]

7. Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen. [...]

9. Das Auslegen ist Kunst. [...]

10. Die glückliche Ausübung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis." (S. 75-82)

Quelle

  • Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg.v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977.