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Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785-1790)

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Karl Philipp Moritz veröffentlichte 1785-1790 in vier Teilen seinen unvollendet gebliebenen Roman Anton Reiser. Er erzählt die Kindheit und Jugend des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Titelhelden, der, "von der Wiege an unterdrückt" (S. 12), aufwächst unter dem Eindruck der ewigen Zwietracht seiner Eltern und einer streng- religiösen, quietistisch-pietistischen Erziehung. Früh wird der introvertierte Anton nach Braunschweig in die Lehre zu einem Hutmacher geschickt, wo ihn fortwährende Erniedrigungen zu einem Selbstmordversuch treiben. Wieder zurück in Hannover macht er in der Armenschule durch seinen Fleiß auf sich aufmerksam. Als Talent von einem adeligen Gönner gefördert darf Anton schließlich das Gymnasium besuchen und träumt davon, eines Tages Theologie zu studieren. Aber die damit verbundenen "Freitische" bedeuten für ihn eine andauernde Demütigung, die schließlich sein Selbstbewußtsein zerstört, ihn depressiv und menschenscheu macht. Anton sucht Zuflucht in Romanen und Theaterstücken und richtet sich um so nachhaltiger in seiner inneren Lesewelt ein, je unerträglicher ihm die äußere Wirklichkeit erscheint. Zuletzt beschließt er, die Schule aufzugeben und Schauspieler zu werden: "Das Theater als die eigentliche Phantasienwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein." (S. 382) Aber Anton Reiser, dem es von Kindesbeinen an nicht gelingt, in der Wirklichkeit Fuß zu fassen, und der sich nun aus Lebensunfähigkeit und nicht aus Berufung dem Theater zuwendet, findet auch in der Kunstwelt keinen Einlaß. Als er am Ende nach langen Fußmärschen endlich die Schauspieltruppe gefunden hat, bei der er auf eine Rolle hoffen kann (ein anderer Versuch bei der Truppe des berühmten Ekhof ist bereits gescheitert), steht diese vor der Auflösung, da der Prinzipal mit dem gesamten Besitz auf und davon ist.

Lesewut und Theatromanie, zwei typische Phänomene der Spätaufklärung, werden im Anton Reiser thematisiert. Die Hinwendung zum Theater stellt hier jedoch nicht, wie in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, eine zeitweilig produktive Stufe der Selbstausbildung dar, sondern ist ein Zeichen der Orientierungslosigkeit und tiefen Identitätsstörung Reisers. Moritz, der Herausgeber des Magazins für Erfahrungsseelenkunde - der ersten psychologischen Zeitschrift Deutschlands - nennt den Anton Reiser einen psychologischen Roman. Und in der Tat liest sich der Anton Reiser wie eine Fallgeschichte, in der detailliert "die innere Geschichte [eines] Menschen" (S. 6) aufgezeichnet wird. Hundert Jahre vor Sigmund Freuds Psychoanalyse versucht Moritz, durch einen genauen, psychologisch-analysierenden Blick die Gründe für das Scheitern des Antihelden Anton Reiser bis in dessen früheste Kindheit zurückzuverfolgen.

Darüber hinaus ist dieser psychologische Roman ein autobiographischer Roman: es ist nämlich größtenteils Moritz' eigene Kindheit und Jugend, die unter dem Deckmantel des anderen Namens und in distanzierter Er-Perspektive geschildert werden. Der Anton Reiser stellt in der Romanentwicklung einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur modernen, psychologisierenden Figurengestaltung dar, dieser psychologische Roman ist aber auch ein Muster fiktionalisierten autobiographischen Schreibens.

©TvH

Quelle

  • Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, hg. v. W. Martens. Stuttgart 1998.

Sekundärliteratur

  • J. Fürnkäs: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Stuttgart 1977.
  • L. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis: Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Frankfurt/M. 1987.
  • H.J. Schrimpf: Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, in: B. v. Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 95-131.