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Gottfried Benn: Fragmente (1950)

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Fragmente


Fragmente,

Seelenauswürfe,

Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts -


Narben - gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe,

die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten

zertrümmert,

die Wissenschaft: Risse im Parthenon,

Planck rann mit seiner Quantentheorie

zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen -


aber Abende gab es, die gingen in den Farben

des Allvaters, lockeren, weitwallenden,

unumstößlich in ihrem Schweigen

geströmten Blaus,

Farbe der Introvertierten,

da sammelte man sich

die Hände auf das Knie gestützt

bäuerlich, einfach

und stillem Trunk ergeben

bei den Harmonikas der Knechte -


und andere

gehetzt von inneren Konvoluten,

Wölbungdrängen,

Stilbaukompressionen

oder Jagden nach Liebe.


Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:

das ist der Mensch von heute,

das Innere ein Vakuum,

die Kontinuität der Persönlichkeit

wird gewahrt von den Anzügen,

die bei gutem Stoff zehn Jahre halten.


Der Rest Fragmente,

halbe Laute,

Melodienansätze aus Nachbarhäusern,

Negerspirituals

oder Ave Marias.

 

Quelle

Gottfried Benn. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt am Main 1982, S. 379.