Startseite Index

Werkimmanente Interpretation

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Unter dieser (oft als 'Werkimmanenz' abgekürzten) Bezeichnung wird bis heute eine methodische (und weltanschauliche) Richtung der Literaturwissenschaft verstanden, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die Germanistik der deutschsprachigen Länder (mit Ausnahme der DDR) beherrschte. Dies ist allerdings ein nachträglich geprägter und bereits kritisch akzentuierte Begriff; die Immanenz (nach lat. in und manere, bleiben, also etwa: im Innern bleibend) verweist selbst auf das Ausgeschlossene: in diesem Fall besonders auf die Geschichtlichkeit der  Literatur. Die Repräsentanten jener Richtung sprachen denn auch lieber von Dichtungswissenschaft (Wolfgang Kayser) oder Stilkritik (Emil Staiger).

Im kritischen Rückblick (der damaligen Studentengeneration) erscheint die Werkimmanente Interpretation oft als homogener (und daher leichter zu kritisieren) als es der Realität entsprach. Gemeinsam war ihren Vertretern sicher eine aus zeithistorischen Erfahrungen gespeiste Abwendung von Politik, Geschichte und Gesellschaft - und die komplementäre Hinwendung zum sprachlichen Kunstwerk als solchem (Kayser). Sie findet sehr oft in einer Demutshaltung statt, die (ästhetische oder ideologische) Kritik von vornherein unmöglich macht. Insofern darf man von einer Art Dichtungs-Religion sprechen, die die verlorene weltanschauliche Orientierung kompensieren sollte. Nur so ist es überhaupt erklärbar, daß unter dem Dach der Werkimmanenz viele ehemalige Nationalsozialisten wie Wolfgang Kayser, Erich Trunz, Benno von Wiese mit Kollegen aus 'sicheren Drittländern' (wie dem Schweizer Emil Staiger) und einzelnen Rückkehrern aus dem Exil (wie Richard Alewyn) zusammenfinden konnten.

Dem genaueren Blick zeigen sich aber deutlich individuelle und methodische Varianten. Emil Staiger ist als Vertreter einer "konservativ-humanistischen Richtung" bezeichnet worden (Jost Hermand), die ganz aus der Betroffenheit durch die Gehalte der dichterischen Werke lebt und Berührungspunkte zur zeitgenössischen Existenzphilosophie aufweist. Für Wolfgang Kaysers bis heute verlegtes Lehrbuch Das sprachliche Kunstwerk (20. Aufl. 1992), das während seiner Zeit als NS-Gastdozent in Lissabon entstand, ist ein eher "sachlich-zergliederndes" (Hermand) bzw. poetologisch-handwerkliches Interesse an der Literatur kennzeichnend. Damit werden übrigens auch ältere, speziell gattungsgeschichtliche Anregungen (etwa des Emigranten Karl Viëtor) aufgenommen. Ein ehemals bekennender Nationalsozialist wie Erich Trunz feiert ebenfalls die "innere Form" des Kunstwerks, zieht sich dann aber zunehmend auf ideologiefreie Editionsprojekte zurück (Hamburger Goethe-Ausgabe). Der fachpolitisch einflußreichste Ordinarius der fünfziger Jahre, Benno von Wiese, hat mit seinen gattungsgeschichtlichen Arbeiten und Interpretations-Sammelbänden wesentlich zur Popularisierung der Werkimmanenten Interpretation (auch im pädagogischen Bereich) beigetragen, ohne die historische Dimension ganz auszuklammern.

Nach 1955, verstärkt nach 1960 erscheinen dann verschiedene Arbeiten, die Abstand zur Dichtungs-Ideologie nehmen und sachlich-analytisch die Strukturgesetze von Texten und Gattungen aufdecken. Die jüdische Emigrantin Käte Hamburger (Die Logik der Dichtung, 1957), aber auch Eberhard Lämmert, Vertreter der ersten Nachkriegs-Generation (Bauformen des Erzählens, 1955), sowie der Österreicher Franz K. Stanzel (Typische Formen des Romans, 1964) verschaffen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft - zunächst im Bereich der Erzählforschung (vgl. Epik) - wieder Anschluß an das internationale Niveau. Was eine textimmanente Analyse im strengen Sinne - in der Verbindung literaturwissenschaftlicher und linguistischer Aspekte - leisten kann, zeigen die Texterklärungen des nach USA emigrierten Romanisten Leo Spitzer, die in Deutschland freilich erst verspätet rezipiert werden konnten.

Im Rückblick erscheint die sogenannte Werkimmanenz, wie Klaus Berghahn gezeigt hat, in einer kaum aufhebbaren Ambivalenz: auf der einen Seite bleibt sie in einer spätbürgerlich-irrationalen Kunst-Ideologie befangen, auf der anderen Seite entwickelt sie zumindest Ansätze zu einer sachlich-detaillierten Analyse von einzelnen Texten und gattungsspezifischen Strukturen bzw. "Bauformen" (Lämmert). Damit bereitet sie längerfristig die Rezeption moderner Literaturtheorien, etwa der strukturalistischen Erzählforschung, vor.

© JV

Wichtige Schriften

  • Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk (1948)
  • Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation (1955)
  • Leo Spitzer: Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur (1969)
Sekundärliteratur
  • W. Barner/C. König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M. 1996 (darin die Beiträge von R. Baasner, B. Böschenstein, L.Dannenberg).
  • K. Berghahn: Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945, in: Monatshefte 71 (1979), S.387-398.
  • J. Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S.114-140.