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Euripides: Iphigenie in Aulis (nach 406 v. Chr.)

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Iphigenie in Aulis beschreibt die Vorgeschichte der Geschehnisse um die Iphigenie auf Tauris, wie wir sie etwa in der Bearbeitung Goethes kennen (der sich ausdrücklich auf das Vorbild des Euripides bezieht). Der Stoff stammt aus dem Mythenkreis um das Geschlecht der Atriden, die sich untereinander besonders blutig und abstoßend bekämpft haben. Den oftmals variierten Kern bildet dabei die Geschichte um Agamemnon, den Anführer des griechischen Heers im Trojanischen Krieg - berühmt vor allem durch Homers Ilias, aber auch in seiner Odyssee spielt Agamemnon eine wichtige Nebenrolle. Einen Erzählstrang in den Mythen um die Atriden bilden die Geschichten um die Tochter des Agamemnon: Iphigenie. Als die Streitmacht der Griechen die Insel Aulis wegen einer lang anhaltenden Flaute nicht verlassen kann, wird Agamemnon prophezeit, er müsse seine Tochter opfern, um die Göttin Artemis wohlwollend zu stimmen. Agamemnon tut dies notgedrungen und zieht sicht damit den Haß seiner Frau Klytämnestra zu, die ihn nach seiner Rückkehr aus Troja gemeinsam mit ihrem Liebhaber ermordet. Sie wiederum wird von ihrem Sohn Orest getötet, der den Vater rächen will.

Euripides gestaltet nur einen Ausschnitt dieses Mythenkreises, nämlich die Geschehnisse in Aulis: Agamemnon will Iphigenie und ihre Mutter unter dem falschen Vorwand einer Hochzeit mit Achill nach Aulis locken, um dort Iphigenie zu opfern. Zu Beginn des Stücks will er zwar von seinem Vorhaben wieder abrücken, aber es ist bereits zu spät - Mutter und Tochter treffen ein. Agamemnon will einerseits seine Tochter nicht töten, kann sich andererseits aber nicht dem Willen der Göttin verweigern - zumal das griechische Heer auf der Opferung besteht und mit Aufstand droht, der dann auch den Tod der Iphigenie bewirken würde. Die Lage Agamemnons ist damit durchaus tragisch, zumal Euripides in seiner Fassung des Mythos den vorhergehenden Frevel Agamemnons eliminiert, der ursprünglich erst die Göttin erzürnt hatte: Agamemnon ist in der Fassung des Euripides der bloßen Willkür der Göttin ausgeliefert: "Kein Sterblicher lebt, dem bis an das Ziel / Hold lächelt das Glück; / Schmerzfrei ward keiner geboren." (S. 8)

In der Zwischenzeit hat Achill, der von seiner vermeintlichen Hochzeit nichts wußte, aber mittlerweile ins Bild gesetzt wurde, Iphigenie und ihrer Mutter seinen Schutz angeboten. Um das Opfer der Iphigenie muß es also zwangsläufig zum Kampf kommen: Achill steht gegen das griechische Heer und vielleicht auch gegen Agamemnon. In dieser Situation entschließt sich Iphigenie, bis dahin noch in Angst um ihr Leben, plötzlich zum freiwilligen Opfertod. Sie sieht sich dem griechischen Volk im Kampf gegen Troja verpflichtet: "Allen hast du mich geboren, allem Volk, nicht dir allein." (S. 53) Während der Opferzeremonie wird sie dann aber von der Göttin entrückt und an ihrer Stelle eine Hirschkuh geopfert. (Der Mythenkundige weiß: Sie wird von der Göttin nach Tauris gebracht und dort als ihre Priesterin eingesetzt.)

Die Tragödie gilt als eines der Meisterwerke des Euripides, obwohl er das Stück nicht mehr vollenden konnte. Nach seinem Tod wurde es wohl von seinem gleichnamigen Sohn bühnenfertig gemacht, wahrscheinlich sind aber auch einige Eingriffe von späteren Bibliothekaren vorgenommen werden. Auch wenn Aristoteles in seiner Poetik den Meinungswandel der Iphigenie als unmotiviert kritisiert (er selbst war wohl Anhänger der stabilen Charaktere des Sophokles), zeichnet sich die Tragödie für heutige Betrachter gerade durch ihren Facettenreichtum in Handlungsführung und Charakterzeichnung aus.

© JK

Quelle

  • Euripides: Iphigenie in Aulis. Tragödie, übers. v. J. J. Donner, Stuttgart 1978.