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Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater (1939)

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Brechts theoretische und praktische Theaterarbeit hat seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit erregt, weil sie mit althergebrachten Traditionen radikal gebrochen hat. Brecht negierte das seit der Antike unangefochtene erste Ziel einer dramatischen Aufführung: die Einfühlung des Zuschauers in die Protagonisten.

"Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die Variable, seine Umwelt die Konstante ist. Einfühlen kann man sich nur in den Menschen, der seines Schicksals Sterne in der eigenen Brust trägt, ungleich uns.

Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde.

Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das nicht tut.

Die Frage lautet also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung?

Was konnte eine solche neue Basis abgeben?

Was konnte an die Stelle von 'Furcht' und 'Mitleid' gesetzt werden, des klassischen Zwiegespanns zur Herbeiführung der aristotelischen Katharsis? [...]

Ich kann die neue Technik des Dramenbaus, des Bühnenbaus und der Schauspielweise, mit der wir Versuche anstellten, hier nicht beschreiben. Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen." (S. 300f.)

Wer ein wenig mehr zu dieser besonderen dramatischen Technik und anderen Aspekten des Brechtschen Theaters erfahren möchte, der klicke einfach auf: Brecht: Das epische Theater, aber nun zunächst weiter mit dem O-Ton über das experimentelle Theater:

"Was ist Verfremdung?

Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir [...] den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter. Vermittels der Einfühlungstechnik kann der Schauspieler diesen Zorn so darstellen, daß der Zuschauer ihn für die natürlichste Sache der Welt ansieht, daß er sich gar nicht vorstellen kann, wie Lear nicht zornig werden könnte, daß er mit Lear völlig solidarisch ist, ganz und gar mit ihm mitfühlt, selber in Zorn verfällt. Vermittels der Verfremdungstechnik hingegen stellt der Schauspieler diesen Learschen Zorn so dar, daß der Zuschauer über ihn staunen kann, daß er sich noch andere Reaktionen des Lear vorstellen kann als gerade die des Zornes. Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist.

Was ist damit gewonnen? Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: Dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff." (S. 301ff.)

Das Ideal des Brechtschen Theaters macht die Menschen handlungsfähig. Sie erkennen, daß die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation, in der sie sich befinden, nicht gott- oder naturgegeben so sein muß. Sie kann anders sein, und sie kann durch Handlungen – auch von Einzelnen – verändert werden. Mit dieser Funktion des Theaters – Menschen zu (politischen) Handlungen anzuregen - wendet sich Brecht gegen den von ihm schon erwähnten Aristoteles mit seiner Poetik, der als Ziel der Dramatik die Reinigung (Katharsis) von Erregungszuständen genannt hatte - Erregungszuständen, von denen der Mensch dann in seinem alltäglichen Leben befreit ist, die ihm und anderen also nicht mehr 'gefährlich' werden können. Ein weiterer Vorgänger, von dem sich Brecht abgrenzt, ist Lessing, der als erhoffte Wirkung der Dramatik die Erzeugung von "Furcht" und "Mitleid" ansieht, die den Einzelnen zu mehr Tugend erziehen soll. Wie bei Aristoteles bleibt die Wirkung des Dramas zunächst auf das Innere des Individuums bezogen, obwohl Lessing als zusätzliche Idealwirkung – über das bürgerliche Publikum hinausgehend - die Fürstenerziehung ansieht. Trotzdem gibt es keine direkte, unmittelbare Konsequenz für gesellschaftliche Prozesse. Obwohl auch Lessing gesellschaftliche Mißstände anklagt, z.B. die Willkür eines Prinzen in Emilia Galotti (1772), fordert er nicht zum Widerstand gegen den Feudalstaat auf, sondern will primär eine moralische Selbstvergewisserung seines bürgerlichen Publikums herbeiführen.

©rein

Quelle

  • Bertolt Brecht: Über das experimentelle Theater [1939], in: ders: Gesammelte Werke, Bd. 15., Frankfurt/M.