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Dekonstruktion/Deconstruction

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Dekonstruktion (dt.) dient als Schlagwort für eine ganze Reihe von Strömungen in Philosophie, Architektur, Kunst und Literatur seit den sechziger Jahren. Deconstruction (am.) soll hier im engeren Sinne als Kennzeichen für ein Lektüre- und Analyseverfahren von Texten stehen, das sich von hermeneutischen Theorien und der Praxis der Interpretation abgrenzt.

Der Unterschied zwischen hermeneutischen und dekonstruktiven (antihermeneutischen) Textbefragungen besteht darin, daß jene von einem quasi dialogischen Verhältnis zwischen Text und Interpret ausgeht, das auf ein zunehmend besseres Verständnis der im Text enthaltenen Botschaft abzielt. Dadurch wird letztlich eine rekonstruierbare Sinneinheit unterstellt. Dekonstruktivisten bemühen sich um das Gegenteil: den Nachweis, daß – und vor allem: wie – ein Text seine Bedeutung selbst hinterfragt, durchkreuzt und gerade mit solchen Paradoxien Sinn schafft.

Dieses Nachspüren von im Text angelegten Widersprüchen wurde – unter Einfluß der des französischen Philosophen Jacques Derrida – zunächst in Nordamerika praktiziert: Literaturwissenschaftler wie Paul de Man, J. Hillis Miller und Geoffrey Hartman zeigen in ihren Analysen zumeist, wie die Bedeutungsebene (Textsemantik, die Signifikate) und die materiale Ebene (die rhetorische Figuralität, die Signifikanten gegeneinander arbeiten, indem auch über die materiale Form der Zeichen Bedeutung transportiert wird. "Jegliche Sprache ist, wie de Man richtig bemerkt, unausweichlich metaphorisch, arbeitet mit Tropen und Bildern, es ist ein Fehler zu glauben, daß irgendeine Sprache buchstäblich wörtlich ist." (Eagleton, S. 131) In literarischen Texten jedoch tritt die Unentscheidbarkeit zwischen 'wortwörtlichen' und figuralen Lesarten deutlicher hervor als in anderen.

Als Wortneuschöpfung vereint der Begriff Dekonstruktion sowohl Sinnkonstruktion als auch Sinndestruktion. Auch eine dekonstruktive Lektüre kann nicht auf eine vorhergehende hermeneutische Interpretation verzichten. Üblicherweise wird dafür zunächst eine semantische bzw. referentielle Lesart vorgeschlagen, deren Vereinfachungstendenz in einer zweiten, die rhetorische Ebene des Textes betonenden Lesart aufgezeigt wird.

Daraus ergeben sich verschiedene literaturtheoretische Einsichten: Literatur ist der Ort, an dem sich die Utopie der sprachlichen Referenz auf eine der Sprache präexistierenden Wirklichkeit zugleich mit der Einsicht in ihre Unmöglichkeit zeigt: "Von der Antike bis zu den Versuchen der Avantgarde ist die Literatur bemüht, etwas darzustellen. Was? Ich sage ganz hart: das Wirkliche. Das Wirkliche ist nicht darstellbar [...] Mit dem Umstand, daß es keine Übereinstimmung zwischen dem Wirklichen und der Rede gibt, können die Menschen sich nicht abfinden, und diese Weigerung, die vielleicht so alt ist wie die Rede selbst, bringt in einem unablässigen Bemühen Literatur hervor. Man könnte sich eine Geschichte der Literatur vorstellen [...], die die Geschichte der – oft ganz aberwitzigen – verbalen Notbehelfe wäre, die die Menschen benutzt haben, um das zu reduzieren, zu zähmen, zu leugnen oder auch das auf sich zu nehmen, was immer ein Delirium ist, nämlich die fundamentale Nicht-Adäquatheit von Rede und Wirklichem." (Barthes, S. 32ff.)

Weiterhin scheint es typisch für dekonstruktive Lesarten zu sein, binäre Oppositionen wie Buchstäblichkeit/Bildhaftigkeit, Wissenschaft/Literatur, Objektsprache/Metasprache, innen/außen, männlich/weiblich, Geist/Körper, Kultur/Natur, Subjekt/Objekt, Signifikat/Signifikant etc. außer Kraft zu setzen, weil sie nachweisen, daß bestimmte Regelmäßigkeiten, die einen der beiden Begriffe und damit die unterscheidende Grenze zum anderen Begriff kennzeichnen, gleichermaßen für den anderen gelten. Darin enthalten ist eine fundamentale Ideologie- und Kulturkritik, weil solche binären Oppositionen das Denken und die Wahrnehmung nicht nur als Vorstellung einer unüberbrückbaren Differenz zwischen den beiden Einheiten prägen, sondern weil zumeist einer der beiden Begriffe einen höhere Geltung erlangt als der andere. Dekonstruktion erklärt diese Opposition nicht nur für ungültig: Gezeigt wird auch, daß in – oft kanonischen – Texten Widerstände gegen diese Vereinheitlichung des Sinns eingeschrieben sind. Dekonstruktive Lektüren sind daher mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil in den verschiedensten literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen geworden (v.a. Postkolonialismus, Feministische Literaturtheorie, Psychoanalytische Literaturwissenschaft).

© pflug

Quelle

  • Roland Barthes: Leçon/Lektion, Frankfurt/M. 1980.
  • Terry Eaglton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992.

Wichtige Schriften

  • J. Derrida: Grammatologie (1974).
  • P. de Man: Allegorien des Lesens (1988).

Sekundärliteratur

  • J. Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1988.
  • T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992.
  • P. V. Zima: Die Dekonstruktion, Tübingen 1994.