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Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft

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In seinem Grundriß versucht Siegfried J. Schmidt, in konzentrierter Form die Grundgedanken des maßgeblich von ihm entwickelten Konzepts einer Empirischen Literaturwissenschaft darzustellen. Diese versteht er als "eine Konzeption von Literaturwissenschaft als empirischer Sozialwissenschaft" (S. 391).

Den Rückgriff auf das Methodenarsenal wie die Terminologie der Sozialwissenschaften sieht er als notwendig an, weil literaturwissenschaftliches Arbeiten in der herkömmlichen Form keine verifizierbaren Ergebnisse liefern könne, wie dies etwa in anderen Wissenschaften mit präzisen Meßinstrumenten möglich ist: "Wenn sich Literaturwissenschaft als Wissenschaft wie andere Wissenschaften auch (d. h. ohne den bloß reklamierten Sonderstatus einer Geisteswissenschaft) entwickeln will, dann braucht sie aus Gründen der Forschung und Lehre empirisch prüfbare explizite Theorien sowie eine Fachsprache mit definierten Begriffen." (S. 390).

Die Empirische Literaturwissenschaft hat deshalb drei Ziele: "(1) ihre Theoriestruktur soll explizit sein; (2) die Aussagen der Theorie sollen empirisch überprüfbar sein und sich auf den gesellschaftlichen Handlungsbereich Literatur beziehen; (3) die Theorie soll durch Anwendbarkeit gesellschaftliche Relevanz erhalten (Ziel: angewandte Literaturwissenschaft)." (S. 11)

Um diese Ziele zu erreichen fordert Schmidt eine - auch institutionelle - Umorientierung der herkömmlichen Literaturwissenschaft: Weil die von ihm stets angefochtene Interpretation (zumal eine solche mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit) eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe und Ansätze miteinander vermische und so ihre Verifizierbarkeit verliere, soll der Blick vom einzelnen Text weg auf das Gesamtsystem "Literatur" gerichtet werden. Er greift deshalb zurück auf systemtheoretische Überlegungen und versteht "Literatur" als ein Ensemble kommunikativer Handlungen. Dieses System "Literatur" kann als eigenständig beschrieben und gegen das Gesamtsystem gesellschaftlicher Handlungen abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung erfolgt aufgrund zweier Konventionen, die das Handeln der Beteiligten bestimmen: Zum einen die Ästhetik-Konvention, die im Handlungssystem "Literatur" Handlungen erlaubt, die nicht den üblichen Wahrheitskonventionen des Gesellschaftssystems verpflichtet sind (es geht also um die Fiktionalität von Texten). Zum anderen die Polyvalenz-Konvention der zufolge Handlungen im Literatursystem auf Texten basieren, die nicht auf einen einzigen "Sinn" reduzierbar sind.

Sowenig Schmidt die Interpretation als literarische Handlung akzeptiert - zumindest nicht in der herkömmlichen Form -, sowenig gibt es für ihn einen konsistenten "Text". Was gewöhnlich als "Text" bezeichnet wird - das bedruckte Papier -, stellt nur die materiale Basis für das kommunikative Handeln der am System "Literatur" Teilnehmenden dar. "Texte" werden zu Literarischen Kommunikaten: Ihre Gestalt (was mit ihnen "verbunden" wird), d. h. ihre Rolle im Literarischen Kommunikativen Handeln wird unter den Handlungspartnern jeweils ausgehandelt. Die konkrete Gestalt des Textes ist deshalb für eine Empirische Theorie der Literaturwissenschaft nur indirekt von Bedeutung.

Das System Literatur wird strukturiert durch vier grundlegende Handlungsrollen und ihre Relationen zueinander: durch Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung Literarischer Kommunikate. Alle vier Handlungsrollen müssen nicht zwangsläufig, durchgehend und andauernd eingenommen werden, sie bestimmen aber in ihrer Gesamtheit das System Literarisch Kommunikativer Handlungen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Autor ist normalerweise Produzent Literarischer Kommunikate; ein Verleger nimmt gewöhnlich die Rolle des Vermittlers ein; ein Leser ist Rezipient und wenn er das Literarische Kommunikat beurteilt, kritisiert oder weiter empfiehlt wird er zum Verarbeiter.

Schmidts Grundriß war der erste umfassende Entwurf einer Empirischen Theorie der Literaturwissenschaft und hat diesen Forschungszweig mit begründet. Mit großer Umtriebigkeit hat sich Schmidt mit der Gründung von Zeitschriften und Instituten um dessen Verbreitung bemüht. Kritiker werfen ihm dagegen einen einseitigen Blick auf die rein institutionelle Seite der Literatur vor und kritisieren seine betont kleinschrittige Argumentation als ermüdend und als über weite Strecken bloßes Aufblasen von Banalitäten.

© JK

Quelle

  • Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe