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Von der Auslegung der Schrift

Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Schrifterklärung sich in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern vollkommen mit ihr übereinstimmt. Denn ebenso, wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man dann als aus sicheren Daten die Definition der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten. Auf diese Weise wird jeder [...] ohne die Gefahr eines Irrtums immer fortschreiten und das, was unsere Fassungskraft übersteigt, gerade so sicher besprechen können als das, was wir durch natürliche Erleuchtung erkennen. [...]

Die Hauptregel der Schriftinterpretation besteht also darin, daß man der Schrift keine Lehre zuschreiben soll, die nicht mit völliger Deutlichkeit aus ihrer Geschichte sich ergibt. Wie aber ihre Geschichte beschaffen sein und was sie enthalten muß, davon soll jetzt die Rede sein.

1. muß sie die Natur und die Eigentümlichkeiten der Sprache, in welche die Bücher der Schrift geschrieben sind und deren sich ihre Verfasser zu bedienen pflegten, zu ihrem Gegenstand haben. Auf diese Weise werden wir imstand sein, den verschiedenen Sinn, den eine jede Rede nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben kann, ausfindig zu machen. [...]

2. muß die Geschichte die Aussprüche eines jeden Buches zusammenstellen und sie nach Hauptgesichtspunkten ordnen, damit man alles, was sich über einen und denselben Gegenstand findet, gleich zur Hand hat. Dann muß sie alle Aussprüche anmerken, die zweideutig oder dunkel sind oder sich zu widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich Aussprüche, je nachdem ihr Sinn aus dem Zusammenhang schwer oder leicht mit der Vernunft zu verstehen ist; denn bloß um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit handelt es sich. [...]

3. endlich muß diese Geschichte über die Schicksale sämtlicher prophetischer Bücher Auskunft geben, soweit wir noch davon wissen können, also über das Leben, die Sitten und die Bestrebungen des Verfassers der einzelnen Bücher, wer er gewesen ist, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit, für wen und schließlich in welcher Sprache er schrieb; dann über das Geschick jedes einzelnen Buches, nämlich wie man es zuerst erhalten hat und in wessen Hände es gekommen ist, ferner, wieviel Lesarten es davon gibt und auf wessen Rat es unter die Heiligen Schriften aufgenommen wurde, und schließlich, auf welche Weise all die Bücher, die wir heute die heiligen nennen, zu einem Ganzen vereinigt worden sind. Das alles, meine ich, muß die Geschichte der Schrift enthalten. (S. 135-138)

Quelle

  • Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, h.g. v. Carl Gebhardt, Leipzig 1908.