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Michail M. Bachtin

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* 17.11.1895, Orel
† 08.03.1975, Klimovsk / Moskau

Philosoph, Sprach- und Literaturtheoretiker

Der unter Stalins Gewaltherrschaft im Jahr 1929 nach Kasachstan verbannte russische Wissenschaftler mußte / konnte dort jahrzehntelang ohne Publikationsmöglichkeiten und öffentliche Anerkennung arbeiten. Nach Stalins Tod sorgten Schüler Bachtins in den sechziger Jahren für dessen politische und wissenschaftliche Rehabilitierung. International wurde er zunächst von französischen Theoretiker/inne/n im Umkreis des Strukturalismus entdeckt und übersetzt; nach seinem Tode wurde sein Einfluß auch auf die angloamerikanische Literaturwissenschaft immer stärker. Mit Bachtin war ein Theoretiker neu zu entdecken, der in der lebenslangen Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Hegels, dem Marxismus, der Psychoanalyse, dem Russischen Formalismus und dem Strukturalismus eigenständige und vielseitige Positionen entwickelt hat und sich immer deutlicher als ein 'großer Anreger' der gegenwärtigen Literaturwissenschaft erweist.

Dies gilt grundsätzlich für die texttheoretischen Konzepte der Intertextualität und Dialogizität die u.a. von seiner französischen Übersetzerin Julia Kristeva ausgearbeitet wurden. Im Blick auf eine Theorie des Romans hatte Bachtin schon in seinem ersten Buch Probleme der Poetik Dostojewskis (1929) auf das Strukturmoment der Polyphonie, also der Vielstimmigkeit hingewiesen: "Die Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine, die echte Polyphonie vollwertiger Stimmen ist tatsächlich die Haupteigenart der Romane Dostojewskis." (Probleme, S. 10)

Über die unbestreitbare Vorliebe gerade dieses Romanciers für die vielfache und direkte Personenrede hinaus wird man die immer stärkere Entfaltung einer strukturellen Vielstimmigkeit des erzählerischen Diskurses als wesentliches Kriterium des modernen Romans schlechthin ansehen dürfen. Bei Bachtins Zeitgenossen James Joyce, John Dos Passos oder Alfred Döblin drückt sie sich auch in verschiedenen Formen der Montage aus.

Bachtins Studie Epos und Roman (1941) weist Berührungspunkte mit den ihm bekannten Theorien von Hegel und Lukács auf; doch übertrifft er diese in der Betonung der Offenheit und Innovationskraft des Romans wie auch in der Verschränkung von geschichtsphilosophischen und strukturanalytischen Kategorien. Und auch den historischen Ort des Romans bezeichnet er präziser, nämlich medienhistorisch: "Einzig der Roman ist unter den großen Genres jünger als Schrift und Buch, und er allein hat sich organisch den neuen Formen der stummen Wahrnehmungsweise, d.h. dem Lesen, angepaßt." (Epos, S. 210) Im Gegensatz zum Epos ist für Bachtin der Roman ein in vielfachem Sinne offenes Genre. Er vermag die "sozial mannigfaltige und durch eine Vielzahl von Redeweisen differenzierte Welt der Gegenwart" (Epos, S. 236) wiederzugeben. Er steht den "außerliterarischen Genres" (Epos, S. 243), also den Gebrauchsformen wie Brief und Autobiographie nahe und kann sie nachahmen bzw. integrieren. Und er gibt "keiner seiner Spielarten die Möglichkeit, sich zu stabilisieren", sondern treibt die Entwicklung durch "Parodieren und Travestieren von vorherrschenden und in Mode gekommenen Spielarten" vorwärts (Epos, S. 213). Kurz und gut: "Der Roman ist das einzige im Werden begriffene und noch nicht fertige Genre." (Epos, S. 210)

Von hier aus läßt sich - im Jahr 1941 - eine Prognose wagen, die auch im 21. Jahrhundert noch bedenkenswert erscheint: "Der Prozeß des Werdens des Romans ist nicht beendet. Er tritt jetzt in eine neue Phase. Für die Epoche ist charakteristisch, daß die Welt auf ungewöhnliche Weise an Komplexität und Tiefe gewonnen hat, daß die Menschen in ungewöhnlichem Maße anspruchsvoller, nüchterner und kritischer geworden sind." (Epos, S. 251)

© JV

Wichtige Schriften

  • Probleme der Poetik Dostojewskis (1929)
  • Die Ästhetik des Wortes [dt. 1979]
  • Epos und Roman (1941)

Sekundärliteratur

  • D. Lodge: After Bakhtin. Essays on fiction and criticism, London/ u. a. 1990.
  • T. Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle, Minneapolis, Mn. 1984.
  • P.V. Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München 1986.