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Johann Wolfgang Goethe: Naturformen der Dichtung (1819)

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Goethe hat seinem großen lyrischen Alterswerk, dem durch die persische Dichtung des Hafis angeregten West-Östlichen Divan (1819) einen umfangreichen Kommentar oder besser: eine kulturhistorische Erläuterung beigegeben, die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans. Darin sind unter den Stichworten Dichtarten und Naturformen der Dichtung einige Überlegungen enthalten, die sehr stark auf das allgemeine Dichtungsverständnis, aber auch auf die Poetik als literaturwissenschaftliche Disziplin eingewirkt haben. Zunächst reiht Goethe die Vielfalt der literarischen Gattungen alphabetisch, um dann einen Systematisierungsversuch zu wagen:

"Allegorie, Ballade, Kantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopöe, Erzählung, Fabel, Heroide, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze, Satire.

Wenn man vorgemeldete Dichtarten, die wir alphabetisch zusammengestellt, und noch mehrere dergleichen methodisch zu ordnen versuchen wollte, so würde man auf große, nicht leicht zu beseitigende Schwierigkeiten stoßen. Betrachtet man obige Rubriken genauer, so findet man, daß sie bald nach äußeren Kennzeichen, bald nach dem Inhalt, wenige aber einer wesentlichen Form nach benamst sind. Man bemerkt schnell, daß einige sich nebeneinanderstellen, andere sich andern unterordnen lassen. Zu Vergnügen und Genuß möchte jede wohl für sich bestehen und wirken, wenn man aber zu didaktischen oder historischen Zwecken einer rationelleren Anordnung bedürfte, so ist es wohl der Mühe wert, sich nach einer solchen umzusehen. Wir bringen daher folgendes der Prüfung dar.

Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebilde hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drei verbunden, und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. Solange der Chor die Hauptperson spielt, zeigt sich Lyrik obenan; wie der Chor mehr Zuschauer wird, treten die anderen hervor, und zuletzt, wo sich die Handlung persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch, und den fünften Akt, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.

Das Homerische ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund auftun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Antwort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Dramas, sind nicht zulässig.

Höre man aber nun den modernen Improvisator auf öffentlichem Markte, der einen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu sein, erst erzählen, dann, um Interesse zu erregen, als handelnde Person sprechen, zuletzt enthusiastisch auflodern und die Gemüter hinreißen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig, und deshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte. Man wird sich aber einigermaßen dadurch helfen, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis gegen einander über stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder anderen Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis sich schließt." (S.187-189)

Goethes Idee eines Typenkreises ist in der Literaturwissenschaft verschiedentlich aufgegriffen und modifiziert worden; für die allgemeine Gattungstheorie etwa im bekannten Kreisschema von Julius Petersen; für den Bereich der Epik etwa von Franz K. Stanzel.

© JV und rein

Quelle

  • Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Diwans, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.2, München 1981, S.187-189.