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Hyperfiction

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Der Begriff Hyperfiction hat sich als Kurzform von "Hypertextfiction" eingebürgert. Gemeint werden damit Texte, welche die grundsätzlichen Möglichkeiten des Hypertextes für spezifisch künstlerisch-ästhetische Zwecke nutzen und einen Großteil der sogenannten Netzliteratur ausmachen. Entscheidend ist, dass die Möglichkeiten des digitalen Publizierens kreativ genutzt werden; der Leser muss in einen interaktiven und offenen Dialog mit den Sinnangeboten des Textes treten; wenn dagegen ein Roman oder ein Gedicht einfach nur ins Netz gestellt und ausgedruckt werden, kann nicht von Hyperfiction die Rede sein. Beispiele sind Rainald Goetz' Internet-Tagebuch "Abfall für alle", das mittlerweile auch in gedruckter Form vorliegt, oder das Projekt "NULL" von Thomas Hettche, der andere Autoren aufgerufen hatte, kleine Geschichten, Notizen oder Aufzeichnungen einzureichen, die dann ins Netz gestellt wurden – die Möglichkeiten des Hypertextes wurden jedoch kaum genutzt.

Hyperfiction ist eine narrative Textform; sie besteht jeweils aus mehr oder minder aufeinander bezogenen Geschehnissen, die aber im weit stärkeren Maße als bei gedruckten Erzählformen vom Leser selber in eine "Und-dann"-Struktur gebracht werden müssen. Die unterschiedliche Komplexität der narrativen Verknüpfungsmöglichkeiten lässt sich anhand graphischer Figuren darstellen: Bei der "Linie" kann der Leser zwar von der narrativen Achse abweichen, muss jedoch, um weiterzulesen, wieder zu dem Punkt zurück, wo er die Achse verlassen hat (z.B. bei einem wissenschaftlichen Text von der Fußnote zurück zum Haupttext).. Beim komplexeren "Baum" kommt man von einem Anfangspunkt aus zu einer Gabelung, an der man verschiedene "Ast"-Richtungen einschlagen kann. Auf dem gewählten Pfad kommt es zu weiteren Verzweigungen, doch zwischen den "Zweigen" gibt es keine Querverbindung. Das "Rhizom" schließlich weist die komplexeste Struktur auf, da es hier keinen Anfangs- oder Endpunkt gibt; potenziell sind alle Wege miteinander verbunden.

Es gibt literarische (man könnte sagen: "analoge") Vorläufer der digitalen Hyperfiction, etwa in der Romantik. So werden in E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1820-22) zwei Geschichten über ein Zufallsprinzip zu einem Text amalgamiert: Murr hat in seine Lebensansichten unabsichtlich Makulaturblätter mit der Geschichte des Kapellmeisters Kreisler eingefügt. Auch paradigmatische Romane der literarischen Moderne - James Joyces Ulysses (1922) oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) versuchten den medialen und formalen Restriktionen von Buch und Schrift, insbesondere der sukzessiv-chronologischen Erzählweise zu entfliehen.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Joseph Frank hat sich bereits 1945 mit lyrischen und erzählenden Texten der literarischen Moderne befasst, in denen die temporär-konsekutive Abfolge der sprachlichen Zeichen zum Stillstand gebracht wird. Der Leser wird dort mit einer Zeichenwelt konfrontiert, die auf keinen externen Referenten, sondern nur noch auf sich selbst verweist. Die Bedeutung des Textes ergibt sich erst aus dem simultanen Zusammenspiel heterogener Texteinheiten, unabhängig davon, ob es sich um einzelne Wörter oder größere Erzählabschnitte handelt. An die Stelle der Sukzession von Ereignissen tritt z.B. im Monologroman eine sich gleichsam flächenmäßig ausbreitende Simultaneität von Bewusstseinszuständen, eine imaginäre Gleichzeitigkeit von Bildern, deren Zusammenspiel den Text zu einem selbstreflexiven Gebilde werden lassen. Die narrative Sukzession wird im Ulysses weitgehend aufgehoben, nicht jedoch die Linearität der Zeichenkette.

In anderen avantgardistischen Erzähltexten wird auch die Linearität der Zeichen durch ein Nebeneinander von Zeichenkomplexen ersetzt. In Arno Schmidts Hauptwerk Zettels Traum (1970) wird der Roman endgültig zum "Möglichkeitenroman": Der Leser findet drei parallele Spalten, von denen die mittlere und breiteste die Haupthandlung enthält; die linke liefert zumeist die intertextuellen Bezüge, die rechte dient als eine Art Anmerkungsapparat.

Andreas Okopenko hat sich für seinen Roman mit dem Titel Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (1970) das Formprinzip der Enzyklopädie zum Vorbild genommen. Der Text gliedert sich in alphabetisch geordnete Lemmata, die in unterschiedlicher Länge und Textform jeweils Kleinstimpressionen und -erzählungen, Reflexionen, aber auch Parodien enthalten. Die alphabetische Gliederung fordert den Leser auf, seine Erwartungen an eine lineare Ordnung radikal zu reduzieren. Unter Beteiligung des Autors wurde eine interaktive CD-Rom-Version des Textes erstellt: ELEX - Elektronischer Lexikon-Roman einer sentimentale Reise zum Exporteur-Treffen in Druden. Nun muss man nicht mehr durch die Bleiwüste blättern, sondern "surft" mit schnellem Klicken durch eine Kombination aus Text und Bild, wenn auch die visuellen Mittel recht einfach gehalten sind.

Die Geschichte der digitalen Hyperfiction beginnt mit Afternoon, a story des Amerikaners Michael Joyce, die 1987 geschrieben und 1990/91 erstmals auf Diskette veröffentlicht wurde. Seit ihrer Aufnahme in die traditionsreiche Norton Anthology zählt sie zu den kanonischen Texten der amerikanischen Literatur. Mit dem von Joyce entwickelten Textprogramm Storyspace kann der Leser mehr als 500 Episoden, sogenannte "Spaces" mit kurzen Handlungssegmenten, frei kombinieren. Daher lässt sich die Erzählung, in der es sich um einen mysteriösen Todesfall dreht, auch nicht auf gewohnte Weise nacherzählen.

© DF

Wichtige Schriften

  • Andreas Okopenko: Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (1970)
  • Michael Joyce: Afternoon, a story (1987).

Sekundärliteratur

  • D. Frank: Der Möglichkeitenroman als Hyperfiction. Experimentelle Erzähltexte als Prototypen heutiger Netzliteratur, in: Der Deutschunterricht 53, Velber, 2000, S.31-43.
  • J. Frank: Spatial Form in Modern Literature, in: Sewanee Review LIII, 1945, S.229-240.